Katharina Kucharenko
1956. In Russland lebte ihre Familie, die Oma, die Mutter, die drei Jahre jüngere Schwester Nina und sie, in einer sandigen trockenen Gegend in Westsibirien an der Grenze zu Kasachstan. In dem Ort, der den administrativen Stand „Arbeitersiedlung Sodakombinat“ hatte, gab es weder einen Fluss noch einen See, wo man im Sommer hätte baden können, nur einen kleinen verschmutzten Baggersee.
Als elfjähriges Kind hatte Käthe das Glück, einen richtig großen Fluss, den Dnjepr - auf Plattdeutsch „Nepa“ -, zu erleben. Die Oma durfte viele Jahre nach der Vertreibung von 1941 endlich ihre Tochter Marus in der ukrainischen Heimat besuchen. Nur besuchen, mehr war nicht erlaubt. Da in der Familie der Name des Flusses in den Gesprächen der Erwachsenen regelmäßig fiel und den Kindern von der verlassenen Heimat in der Ukraine ausführlich erzählt wurde, war er für die Kleine ein wichtiger Begriff. Wie oft hatte sie sich das Rauschen des Flusswassers vorgestellt, wie gerne würde sie in seinen Wellen plantschen… Oma erzählte, dass das Wasser so klar sei, dass man die kleinen Fische beim Spielen beobachten und die feinsten Steinchen am Boden zählen könne. Das ukrainische Lied vom Dnjepr, das sie im Radio gehört hatte, wurde zu Käthes Lieblingslied. Wenn sie alleine unterwegs war, im Wald oder im Winter auf dem Schulweg, sang sie aus voller Kehle auf Ukrainisch: „Reve ta stogne Dnipr schirokij“.
Реве та стогне Дніпр широкий
(Ukrainisch)
Тарас Шевченко
Реве та стогне Дніпр широкий,
Сердитий вітер завива,
Додолу верби гне високі,
Горами хвилю підійма.
І блідий місяць на ту пору
Із хмари де-де виглядав,
Неначе човен в синім морі,
То виринав, то потопав.
Ще треті півні не співали,
Ніхто нігде не гомонів,
Сичі в гаю перекликались,
Та ясен раз у раз скрипів
"Reve ta stogne Dnipr schirokij"
Das Lied vom Dnjepr
Nachgedichtet im Winter 2013
Es brüllt und stöhnt der Dnjepr, der Breite.
Der böse Wind, der heftig dröhnt.
Zu Boden biegt er Weidenzweige
und Wellen schlägt er in die Höh´.
Der blasse Mond ist kaum zu sehen,
in Wolken dicht versteckt er ist,
und wie ein Boot auf hohen Seen,
taucht er mal ein, mal zeigt er sich.
Es ist die Nacht noch nicht vergangen.
Im Dorfe ist noch alles still.
Nur Eulen schreien weit im Walde,
und Eschenbäume knarren wild.
Dabei stellte sie sich den stürmischen Wind vor, wie er hohe Wellen ihr ins Gesicht schlägt. Sie wusste, dass sie einmal den Dnjepr kennen lernen würde. Es musste einfach sein!
Nach der Aufhebung der Kommandantur-Aufsicht 1956 erhielt die Familie endlich die Genehmigung für eine Urlaubsreise in die Ukraine. Da das mühsam ersparte Reisegeld nur für Fahrkarten entweder für zwei Erwachsene oder für einen Erwachsenen und zwei Kinder unter zehn Jahren reichte, beschloss Oma, beide Mädchen mitzunehmen, obwohl die Ältere, die Käthe, schon fast elf Jahre alt war.
So machten sich die Drei auf den weiten und langen Weg in Omas und Mutters Heimat. Man muss es sich vorstellen, wie riskant das ganze Unternehmen für die Oma damals war. Aber die zierliche alte Frau wusste die Sache zu meistern. Die Enkelinnen durften nicht von ihrer Seite weichen, sie selber war ständig auf der Hut, und wenn ein Kontrolleur kam, musste sich Käthe schnell hinlegen, zur Wand drehen, unter dem Laken klein machen und schlafend stellen. So gelang es ihnen, die wachsamen Kontrolleure zu hintergehen. Beim Umsteigen war es ebenfalls nicht einfach, die Schaffner hinters Licht zu führen. Da musste Käthe sich das Knie halten, dabei bücken und so tun, als ob sie sich gestoßen habe und es ihr wehtue. Dem Mädchen war es schon bewusst, dass das Betrug war, aber was tut man nicht alles, wenn die eigene Oma es für richtig hält und der allerschönste Fluss in der fernen Ukraine auf einen wartet...
Die Oma war der Mädchen ein und alles: Sie war immer für sie da, machte den Haushalt, während die Mutter, um die vierköpfige Familie zu ernähren, in einem Chemiewerk in drei Schichten arbeitete. Dort musste sie Waggons mit schweren Sodastücken be- und entladen, dann diese mit einer großen Schaufel in den Rachen eines glühenden Ofens werfen. Die Luft war dort so schadstoffreich, dass die Arbeiter Schutzmasken tragen mussten. Im Winter war es am Rücken kalt, und das Gesicht brannte vor Hitze. An den Füßen hatten sie grobe Gummistiefel, die von innen mit Stroh gepolstert und die Füße mit einem Stoffstreifen, Portjanki genannt, und Papier umwickelt waren. Nach ihrer achtstündigen Schicht war die Mutter dann so kaputt, dass sie keine Kraft mehr hatte, sich um die Kinder zu kümmern. Sie griff nur dann ein, wenn es um ernste Sachen ging, etwa, wenn die Töchter etwas angestellt hatten, und mit ihnen ein ernstes Wort zu sprechen war.
Aber das war selten der Fall. Meist hatte Oma alles im Griff - den Haushalt wie die Mädchen. Klein und zierlich, immer ruhig, gütig und gerecht - trotz alledem, was sie in ihrem Leben durchgemacht hatte. Sie schimpfte weder über die Nachbarinnen noch über die Kinder. Niemand hat sie je böse erlebt. Ihr graues Haar trug sie zu einem dünnen Zopf geflochten, den sie im Nacken mit einem Kamm befestigte. An Samstagen, am Badetag, wenn sie sich zum Schlafengehen fertig machten, durften die Mädchen Omas Haar kämmen und den Zopf flechten. An den langen dunkeln Winterabenden, wenn es draußen stürmte und heulte, die Bäume vom Frost knackten, wenn die Fensterscheiben mit Frostblumen dick bemalt waren, saßen die Drei vor dem brennenden Ofen, und Oma erzählte Geschichten aus ihrem Leben. Besonders spannend waren ihre Erinnerungen aus dem Ersten Weltkrieg und dem danach folgenden Bürgerkrieg. Stundenlang konnten die Mädchen dasitzen und zuhören.
Und noch lieber mochten sie Omas Lieder. Was immer sie zu tun hatte - Oma sang dabei. Deutsche Lieder wie „So nimm doch meine Hände und führe mich“ und andere Kirchenlieder. Aber sie sang auch Kinderlieder mit den beiden: „Kommt ein Vogel geflogen“, „Alle meine Entchen“, einige in ihrem plattdeutschen Dialekt, den sie zu Hause auch zu sprechen pflegten. Zu Weihnachten übten sie „Oh, Tannenbaum“ ein und einige kurze Lieder in Platt:
Etj kum vom Boich herannt,
de Betjse sen hetrannt,
de Fupe sen jeblewe,
jie mote mie wout jewe.
Ich komm vom Berg gerannt,
die Hose ist getrennt,
die Taschen sind geblieben,
sie müssen mir was geben.
Oma erzählte, dass in ihrem Heimatdorf an Heiligabend die Kinder mit solchen Liedern von Haus zu Haus liefen, um Süßigkeiten zu sammeln. Hier, wo sie jetzt lebten, konnten, genauer gesagt durften sie zum Singen nirgendwohin gehen – es gab kein Weihnachtsfest da draußen. Die Geburt Christi feierten die Deutschen nur im engsten Familienkreis hinter geschlossenen Türen und Fenstern. Und in ihrer Nachbarschaft gab es keine weitere plattdeutsche Familie.
Besonders gerne sangen sie „Es wollt‘ ein Mann in seine Heimat reisen“.
Es wollt ein Mann
Es wollt ein Mann nach seiner Heimat reisen,
die Sehnsucht trieb ihn Heim nach Weib und Kind.
Da musste er den großen Wald durch reisen,
wo plötzlich ihn ein Räuber überfiel.
Gib her dein Geld! Dein Leben ist verloren!
Gib her dein Geld, dein Leben voller Lust.
Gib her dein Geld, sonst muss ich dich durchbohren,
ich setzte schon den Dolch auf deine Brust.
Mein Geld das kann ich leider dir nicht geben,
mein Geld das kann ich leider dir nicht leih´n,
so nimm, so nimm mein schönes junges Leben,
ich öffne dir von selber meine Brust.
Der Räuber blieb ein Weilchen vor ihm stehen,
zum Stechen hab ich heute keine Lust.
Ach aber ach, was muss ich bei dir sehen?
Was trägst du für ein Bild auf deiner Brust?
Das ist das Bild von meiner lieben Mutter.
Das ist das Bild, die Mutter gab es mir...
Drauf küssten sie, drauf küssten sie sich Beide.
Ach Gott verzeih mein Bruder steht vor mir.
Bei diesem Lied stellte Käthe sich ihren eigenen Vater vor, den sie nie richtig kennen gelernt hatten und der nie nach Hause gekommen war. Vielleicht war er einem bösen Räuber begegnet… Aber weder Oma noch Mutter wollten ihr die Fragen nach dem Vater beantworten, und irgendwann hörte sie auf zu fragen…
Und nun wagte es diese fromme deutsche Frau, auf solch nicht ganz legale Art und Weise die Kinder in ihre ferne Heimat mitzunehmen. Das Reisegeld war sehr knapp und die Reise lang. Die Vorräte von zu Hause – ein Dutzend gekochter Eier, ein paar Pellkartoffeln, Lauchzwiebeln, etwas Zucker, Salz in einer Streichholzschachtel, ein Laib Brot und eine große Flasche Milch –, das war alles, was sie mithatten. Schon am dritten Tag war alles aufgegessen, sie hatten nur noch etwas Brot übrig. In einem Nebenabteil ihres Waggons feierte eine Männergesellschaft den ganzen Weg ihren Urlaub. Sie tranken von früh bis spät Wodka und aßen reichlich. Auf ihrem Tisch blieben große Stücke Brot übrig, das sie der alten Frau mit den Mädchen abgaben. Es war ziemlich viel Brot. Wenn der Zug hielt, legte Oma es in ihre Schürze und ging damit auf den Bahnsteig, wo laute Weiber ihre Köstlichkeiten den Passagieren anboten. Das waren heiße Kartoffeln mit etwas Grün und Butter, gebratene Hähnchen, gebackene Pirogen mir Kartoffelfüllung und vieles mehr. Oma tauschte das Brot, das die eine oder andere Frau für ihr Vieh mitnahm, gegen ein paar warme Kartoffeln mit Salzgurken und einmal bekam sie sogar zwei Pirogen. Vielleicht tat der Händlerin das arme Mütterchen, das kaum Russisch konnte und zwei Kinder dabei hatte, einfach leid. Aber so hatten die Drei für die ganze Reise etwas zu essen.
Nach einer Fünftagesreise kamen sie endlich in der Stadt Saporoshje an. Es war bereits später Abend, und sie mussten noch weiter, über den Großen Fluss Dnjepr, zu Tante Marus, Omas Tochter. Da aber zu dieser Tageszeit keine Flusskutter mehr unterwegs waren, mussten unsere Reisenden am Bahnhof in einer Mutter-Kind-Stube übernachten. Sie hatten Glück - zwei Betten waren noch frei, eins für die beiden Schwestern und das andere für die Oma. Müde und erschöpft von den Strapazen der letzten Tage, war die Oma gleich eingenickt. Die kleine Schwester auch, nur Käthe konnte nicht bis zum Morgen abwarten, so stark war ihr Wunsch, den Fluss sofort zu begrüßen. Sie schlich sich aus dem Zimmer.
Das Gebäude stand direkt am Ufer, das hatte sie sich schon bei der Ankunft gemerkt. Nun brauchte sie nur um die Ecke zu laufen – und da rauschte und glänzte er, der Dnjepr, in seiner unendlich mächtigen Breite. Das Licht der Häuser, das durch die Fenster nach außen drang, und die Außenbeleuchtung spiegelten sich in seinen dunklen Wellen. Der Fluss war lebendig, er zog Käthe an, er sprach zu ihr, als wenn er ihr, der Enkelin von der deutschen ukrainischen Oma, die endlich zu ihm den Weg gefunden hatte, so viel zu berichten hätte.
Sie saß auf einem Uferstein, die Beine umfasst, den Kopf auf die Knie gestützt und schaute verzaubert in die Tiefe. Schade, dass es so dunkel war, sie konnte die kleinen Fische da unten nicht sehen… Ein Gefühl der nie zuvor erlebten Vertrautheit, Geborgenheit und Zuversicht erfüllte und umhüllte sie sanft, wiegte sie in den Schlaf. Im Traum schaukelte sie auf seinen Wellen. Bis die von Käthes Abwesenheit erschrockene Oma mit Hilfe der gesamten Belegschaft des Bahnhofs die Enkeltochter endlich auf dem Felsbrocken am Ufer gefunden hatte, war es weit nach Mitternacht, und die nächtliche Frische hatte für eine starke Lungenentzündung gereicht.
Später konnte sich Käthe nicht daran erinnern, wie sie ins Dorf am anderen Ufer des Flusses gebracht worden, wie sie mit hohem Fieber im Bett gelandet war, und alle sich um sie große Sorgen gemacht hatten. Nur einige blauen Flecken an ihrem Oberschenkel zeugten von den Spritzen, die ihr der aus dem Nachbardorf eilig herbeigerufene Doktor gegeben hatte, was in Anbetracht ihrer panischen Angst vor Spritzen umso erstaunlich war.
Erst nach einigen Tagen kam sie wieder zu sich. Sie begriff zwar nicht, was geschehen war, fragte aber sogleich, wann sie zum Fluss laufen dürfe…
Dank der liebevollen Pflege der Oma und der Tante kam Käthe schnell wieder auf die Beine. Die unterhaltsame Gesellschaft der hilfsbereiten Gastgeberkinder tat ihr Übriges. Ein Cousin brachte einen kleinen Igel ans Bett, den er für sie im Garten gefangen hatte. Noch nie zuvor hatte sie einen lebendigen Igel gesehen. Der sah ja wirklich wie eine stachelige Kugel aus. Als er dann noch seine Nase und die kleinen Knopfaugen zeigte, war sie total begeistert. Kurz darauf schlief sie ein, so schwach war sie, und am nächsten Tag wollte sie wissen, wo der Igel geblieben sei. Der Junge erzählte, er habe ihn auf den Dachboden geworfen. Er solle dort Mäuse jagen. In der ukrainischen Sprache heißt Dachboden „Gorische“, was wie das russische Wort für „Riesenberg“ klingt. Nun war Käthe auf den Riesenberg gespannt. Oma hatte nie erwähnt, dass es in dem Dorf Nieder Gortiz einen Riesenberg gebe. Als sie nach der Genesung zum ersten Mal aus dem Haus durfte, schaute sie sich neugierig nach dem Berg um, entdeckte aber keinen. Sie fragte Oma danach, aber die verstand nicht, wovon die Rede war. Als Käthe von dem Igel erzählte und wo er abgeblieben sein sollte, lachten alle los. Ihr wurde erklärt, dass der Dachboden „Gorische“ heißt. Und der Igel, der sei wohl von da oben weggelaufen, obwohl es keiner so genau wusste. Vielleicht versteckte er sich dort irgendwo vor den Kindern, vielleicht war es auch Onkel Misch, der ihn heruntergeholt und im Garten freigelassen hatte.
Dieser Sommer war warm und sonnig, das schönste Badewetter. Jeden Tag waren die Schwestern mit ihrem Cousin und anderen Kindern aus dem Dorf am Ufer, sie spielten im Sand, sonnten sich auf den aus dem Wasser emporragenden Steinen, spielten fangen.
Nach dem Baden liefen sie meist zum Obstgarten. Die Obsternte fiel in jenem Jahr gut aus: Gepflückte Äpfel lagen haufenweise zwischen den Bäumen und warteten darauf, von den Kolchosarbeitern in Kästen getan und zur Verarbeitung in die Stadt gebracht zu werden. Es gab einen Wächter, der aufpasste, dass die Äpfel nicht gestohlen oder vom Vieh gefressen wurden. Die Kinder schickten Käthes kleine Schwester zum Wächter. Diese hatte einen Satz eingeübt: „Liebes Onkelchen, gib mir bitte ein paar Äpfel. Ich komme aus Sibirien.“ Wer konnte da schon widerstehen. Die Kleine hielt ihr breites Röckchen hoch, und der Wächter gab ihr so viele Äpfel, wie dort hineinpassten. Glücklich lief sie dann über den Weg in das hohe Maisfeld, wo die anderen Kinder auf sie warteten. Rasch wurden die rotbackigen Früchte verteilt und verspeist. Am nächsten Tag ging es dann von vorne los. Bestimmt haben die Wächter diesen Kinderstreich durchschaut, aber jedes Mal kam die Kleine mit einem vollen Rock Äpfel zurück.
Auf dem Friedhof, der mitten im Dorf lag, standen große Maulbeerbäume. Die süßen schwarzen Beeren schmeckten allen gut, und wenn die Kinder nach dem Naschen nach Hause kamen, waren nicht nur ihre Zungen blau, sondern auch Mund und Wangen.
An einem frühen Morgen, als noch alles schlief, nicht einmal der Dorfhirte das Vieh auf die Weide trieb, hallte ein Schreckensschrei durchs Haus. Oma lief im Nachthemd, mit bloßem Haar verwirrt durchs Haus und wiederholte nur ein Wort: „Krieg! Krieg!“, worauf alle, auch die Kinder, nach draußen rannten. Auf der Straße rollten schwere Militärpanzer Richtung Maisfeld. Soldaten marschierten hinterher. Das Ganze verursachte einen ungeheuren Lärm. Grauer Straßenstaub schwebte über dem Dorf. Das Spektakel war so beeindruckend wie bedrohlich. Für die Dorfbewohner waren nächtliche Militärübungen nichts Ungewöhnliches, weil hinter dem Dorf, direkt am Flussufer, Einheiten der Sowjetarmee stationiert waren, die hier in der Gegend ihre Feldmanöver durchführten. Oma konnte dies weder wissen noch im Geringsten ahnen, und so erklärten die Verwandten ihr und den Mädchen den Ablauf der Übungen ausführlich. Die Kleinen fanden es sogar lustig, echte Panzer und bewaffnete Soldaten wie im Kino sehen zu können. Nur für die Oma kehrten die schlimmsten Erinnerungen ihres Lebens im Sommer 1941 zurück, als sie und ihre Kinder den Kriegsbeginn in seiner grausamen Wirklichkeit erleben mussten. Die Kinder gingen wieder ins Bett, die Tante kümmerte sich um das Vieh, Oma aber blieb noch lange draußen auf der Bank im Vorgarten sitzen. Den ganzen Tag über war sie nachdenklich, ja betrübt. Am Abend danach hörten sich die Kinder Omas traurige, aber auch spannende Geschichten von dem Krieg und ihrer Zwangsumsiedlung nach Sibirien an.
Als in den Waldstreifen die wilden Aprikosen reif wurden, mussten die Mädchen gemeinsam mit den Kindern der Tante die Oma begleiten und ihr helfen, die Früchte einzusammeln. In großen Mengen brachten sie das reife Obst nach Hause. Es wurde entkernt, in die Sonne gelegt und getrocknet. Dieses leckere Trockenobst wollte Oma nach Sibirien mitnehmen, um dort im Winter Kompott zu kochen. Zum Kuchenbacken war es auch geeignet.
Da sie im Heimatdorf der Oma zu Gast waren, wollten die Mädchen, insbesondere Käthe, unbedingt das Elternhaus ihrer Mutter kennenlernen. Aber es dauerte eine Weile, bis es so weit war. Zuerst war Käthe krank, dann zu schwach, um ans andere Ende des Dorfes zu gehen, später hatte Oma keine Zeit. Es wurde wieder und wieder verschoben - aus welchem Grund auch immer.
Einmal bekam Käthe ein Gespräch zwischen Oma und Tante Marus mit. Oma bestand darauf, das Haus zu sehen. Worauf die Tante antwortete, dass dies zu nichts Gutem führen würde. Die heutigen Hausbesitzer wären schon alleine von dem Besuch der früheren Hausherrin verärgert und gereizt. Sie brauchten zwar nicht zu befürchten, dass Oma ihr Haus zurückhaben wolle, dazu habe sie ohnehin kein Recht mehr, denn sie sei nach der Vertreibung enteignet und das Haus an die neuen ukrainischen Bewohner weitergegeben worden. Nein, das nicht, aber der Gedanke, dass sie irgendwann vor dem Tor stehe und ins Haus rein wolle, alleine der Gedanke ließ der fremden Frau keine Ruhe. Sie behauptete den Nachbarn gegenüber, dass sie ihren Hund auf die verfluchten Deutschen, die Nemzy, loslassen würde, sollten die es wagen, sich dem Hause auch nur zu nähern.
Oma gab aber nicht nach. Sie ließ sich doch nicht verbieten, den Enkelkindern ihr Haus zu zeigen, das nicht! Und nun war es so weit. Am Vormittag, als die meisten Erwachsenen des Dorfes auf den Kolchosfeldern, in den Obst- und Gemüsegärten beschäftigt waren, zog Oma ihr Sonntagskleid an, auch die Mädchen durften ihre schmucken Kleidchen aus dem Koffer holen. In die Zöpfe wurden schöne bunte Schleifen geflochten, und Schuhe sollten sie anziehen, sonst liefen sie ja die ganze Zeit barfuß. Kritisch schaute Oma die beiden an, war zufrieden, und es ging los. Erst unterwegs bekamen die Enkelkinder mit, wohin es ging. Die kleine Schwester hopste lebhaft herum, aber Käthe hatte schon Angst vor der bösen Frau, die jetzt in Omas Haus wohnte.
Es war ein wunderschöner Tag, die Morgenfrische war noch nicht verflogen, ein leiser Flusswind wehte die Röcke der Mädchenkleider hoch, spielte mit den Schleifen in den Zöpfen. Oma war ungewöhnlich still, man konnte ihr die Aufregung von den feuchten Augen ablesen. Der Weg führte zuerst die große breite Straße entlang. Hier war Käthe schon einmal gewesen, als sie mit dem Cousin Salz und Öl aus dem Dorfladen holen sollte. Auch im Dorfklub waren sie – im Kino. Und das Verwaltungshaus kannte sie auch schon – hier arbeitete Onkel Misch.
Nun bog Oma in eine andere Straße ein. Sie war schmaler und die Pfützen nach dem gestrigen Regen größer. Nur ein kleiner Steig an den Häusern auf der linken Seite war trocken. Vor einem Zaun blieb Oma stehen. Käthe ahnte sofort, dass das Omas Haus war. Als sie die Oma danach fragte, nickte diese, denn die Aufregung hatte ihr die Sprache geraubt. Das Tor war geschlossen. Hinter dem Zaun konnte man ein schönes Haus mit blauen Fensterläden sehen. Im Vorgarten wuchs ein großer schattiger Birnbaum. Oma sah hoch zu dem Baum. Die Mädchen auch, es war ein besonderer Baum mit früh reifenden Früchten. „Kruschtes“ hießen sie auf Plattdeutsch. In Sibirien schwärmten Oma und Mutter oft von den saftigen honigsüßen „Kruschtes“. Ganz viele kleine reife Birnen hingen dort. Manche lagen auch schon auf dem Boden, direkt vor ihren Füßen. Oma bückte sich, nahm eine davon und hielt sie eine Weile in der Hand, dann roch sie an ihr. Tränen kullerten über Omas Wangen, sie stand da und schwieg. Die kleine Schwester wurde auch ernst und fing an, die Birnen vom Boden aufzulesen.
Plötzlich riss jemand das Tor mit einem Schwung auf, und eine Frau mit verzotteltem, grauem Haar kam schimpfend heraus: Diese verdammte Deutsche, die am Leben gebliebene Faschistin, habe hier nichts zu suchen. Das Haus gehöre jetzt ihr. Sie habe auch alle Papiere dafür. Und der Baum, der sei auch in ihrem Besitz. Und die Birnen, wenn sie auch auf dem Boden lägen – die dürfe niemand klauen. Jeden Satz schmückte sie mit groben, schmutzigen Schimpfwörtern, die die Mädchen nur von betrunkenen Männern gehört hatten.
Erschrocken ließ die Kleine die Birnen zu Boden fallen und versteckte sich hinter Omas Rücken. Käthe griff zu Omas Hand, drückte sich an ihren Rock und schaute von unten zu ihr hoch. Sie dachte, Oma würde sofort mit ihnen weglaufen, aber sie täuschte sich. Ihre Oma stand da, die Schultern gerade auseinander, den Kopf hoch und ihr Gesichtsausdruck zeigte Entschlossenheit. Ihr ganzes Erscheinen gab der wütenden Frau zu wissen, dass sie, eine Russlanddeutsche, die vor fünfzehn Jahren unschuldig aus ihrem Haus und Land verjagt worden war, nichts zu befürchten habe, weil sie in ihrem schweren Leben nichts Gesetzwidriges getan hatte, wofür sie sich hätte schämen sollen. Von den Tränen war keine Spur mehr zu sehen. Aber sie verlor kein einziges Wort. Sie stand da, eine kleine gütige Frau, mit geradem Rücken, sodass sie größer wirkte als sie war, und schaute auf die Frau herab, was wie ein stiller Vorwurf gegenüber der fluchenden Ukrainerin wirkte. Dann übergab sie der Kleinen die Birne, an der sie vorhin gerochen hatte. Ahnenstolz nahm sie ihre erstaunten Mädchen an die Hand, warf noch einen letzten Blick auf das so vertraute Tor, auf das Haus, das sie und ihr Ehemann vor vielen Jahren liebevoll aufgebaut, auf den Birnbaum, den sie zusammen nach der Geburt ihres ersten Sohnes gepflanzt hatten, auf die Straße, die sich in den vergangenen Jahren kaum verändert hatte. Ein tiefes Seufzen entwich ihrer Brust. Nun hatte sie ihr Haus besucht und mehr wollte sie nicht. Sie kehrte der Frau den Rücken und ging erhobenen Hauptes fort. Erst, als das Haus nicht mehr zu sehen war, ließ sie ihre Schultern fallen und wurde zu der liebevollen Oma, die die Mädchen kannten...
Eines Tages flüsterte der Cousin Käthe zu, er habe es satt, das wilde Obst zu sammeln. Er habe eine bessere Idee. Die beiden Verschwörer schlichen sich heimlich vom Hof und liefen in den naheliegenden Obstgarten, der der Nachbarkolchose gehörte. Dort standen große Aprikosenbäume. Die reifen Früchte leuchteten in der Sonne. Der Junge kletterte auf einen Baum und rüttelte an den Ästen. Saftige orangefarbige Aprikosen fielen ins weiche Gras. Käthe aß sich erst satt, dann las sie die Aprikosen in einen mitgebrachten Sack auf. Die Kinder freuten sich über ihre Beute und wurden ziemlich laut, so laut, dass ein Wächter zu Ross sie hörte und auf sie zuritt. Erst jetzt wurde den beiden bewusst, dass sie fremdes Gut gestohlen hatten. Der Mann fragte streng nach ihren Namen. Aus Angst vor der bevorstehenden Strafe schwiegen beide. Dann ließ der Mann sich den Sack reichen. Auf dem Sack stand der Name des Besitzers. Im Dorf war es üblich, die Säcke zu kennzeichnen. Zum Glück war der Wächter mit Onkel Misch befreundet, spielte die Strenge nur vor und ließ die Eindringlinge laufen. Sogar den Sack durften sie mitnehmen. Als aber Onkel Misch abends nach Hause kam, gab es Ärger. Es hätte schlimm enden können, wenn der Wächter den Vorfall gemeldet hätte.
Käthe, das sibirische Kind, genoss die Zeit aber am liebsten am Fluss, nach dem sie sich schon immer gesehnt hatte. Oft lag sie auf einem Stein und beobachtete die winzigen Fische, wie sie in Scharen oder einzeln vorbeischwammen, sich um die kleinen Brotkrumen stritten oder einfach einer dem anderen hinterherjagte. Manchmal kam auch ein größerer Fisch vorbei, aber dann spritzten die Kleinen in alle Richtungen, hatten Angst. Wie die Menschen …
In diesem Sommer hatte sie schwimmen gelernt. Sie hatte keine Angst ins Wasser zu steigen, sie vertraute dem großen Fluss voll und ganz. Die Kinder schmunzelten über Omas Warnung, die sie ihnen jedes Mal hinterherrief: „Passt gut auf euch auf! Wenn einer von euch ertrinkt, dann wagt es ja nicht, nach Hause zu kommen!“ Und als eines Tages ihre Schwester auf einem Stein ausrutschte und ins tiefe Wasser fiel, sprang Käthe, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, hinterher und half der Kleinen wieder auf den Stein hoch.
Als die Zeit kam, nach Hause zurückzufahren, lief sie am Tag vor der Abreise alleine zum Ufer, setzte sich auf ihren Lieblingsstein und redete lange mit dem Fluss. Sie versprach dem Dnjepr, dass sie zu ihm zurückkommen werde, dass sie immer an diese schöne Zeit denken und am ersten Schultag, wenn alle Schüler von ihren Ferien berichten würden, sie den klassebesten Aufsatz schreiben würde. Dieser Sommer war für sie so abenteuerreich wie keiner zuvor...
Und im September 2013 war ich,
die Käthe,
heute eine 76 Jährige Frau,
wieder mal in Nieder Chortitza am Dnjepr zu Besuch!
Die Begeisterung war nach wie vor enorm!
Ich liebe diesen Fluss und bin stolz,
dass auch meine Wurzeln
in diesem Boden verankert sind!
Es möge Gott
dem gesamten ukrainischen Volke
Frieden und Zufriedenheit schenken!
28.02.2022