Alles könnte anders sein... (30.01.2017)
Agnes Gossen (Giesbrecht)
Natali war eine muntere fünfzigjährige Frau, die immer einen Scherz bereit hatte und auch gerne lachte. Die feine Falten um die grauen Augen nannte sie Lachfalten. Ihr rundes Gesicht mit einer kleinen Stupsnase war mit kurzen dunkelbraun gefärbten Haaren umrahmt. Sie war vollschlank, hatte aber einen sehr leichten, fast graziösen Gang. Ihre Anmut zog sehr schnell jeden ihn ihren Bann. Wie Marianne war sie auch schon länger geschieden, machte sich aber keine großen Sorgen um die Zukunft, war immer von Verehrern umringt. "Ab und zu erlaube ich jemanden, mich zu lieben, aber die Männer sind größtenteils langweilig und auf Dauer lästig", gestand sie Marianne unbekümmert.
Sie mochte einfühlsame Männer, aber immer wieder geriet sie an solche wie Nikolai, die vielversprechend sie umwarben und nach einer Weile entweder zu große Ansprüche stellten oder sang und klanglos verschwanden. Deshalb versuchte sie ihre kurzen Abenteuer auf die leichte Schulter zu nehmen, wenn sie manchmal auch in Melancholie und Sehnsucht nach einem festen Partner überkam.
"Du nimmst die Männer zu ernst", sagte Natalie oft zu Marianne. "Bei dir muss es unbedingt eine unsterbliche Liebe sein, und was hast du davon? Große Liebe endet immer mit großen Enttäuschungen."
"Vielleicht hast du recht", antwortete Marianne nachdenklich. Nach ihrer Scheidung hatte sie eine langjährige hoffnungslose Beziehung mit einem verheirateten Mann gehabt, die durch ihre Umsiedlung nach Deutschland ein logisches Ende bekam.
Dann tauchte Waldemar in ihrem Leben auf. Marianne erinnerte sich genau an jede Einzelheit, aber diese Erinnerungen schmerzten.
Sie konnte damals wieder lange nicht einschlafen, nicht mal sich aufwärmen. Sie wälzte sich im Bett von einer Seite auf die andere. Die unter die Wange geschobene Hand schmerzte bald. Sie fröstelte, obwohl ihre Brüste sich unter dem seidenen Nachthemd heiß anfühlten. Sie hatte solche Sehnsucht nach ein paar Streicheleinheiten, die ihr das Leben immer knapp bemessen hatte. Eine einsame Träne quoll lange an, bang sich den Weg der Nase entlang zum Mundwinkel.
Sie atmete zornig durch: "Jetzt ist aber Schluss mit dem Heulen! Mädchen, du wirst langsam hysterisch." Nie hatte sie es gemocht, bemitleidet zu werden, und von Selbstmitleid hielte sie auch wenig. Nach ihrer Scheidung hatte sie ihrer Mutter "das Gejammer" verboten, wie sie ihre wehleidigen Bemerkungen nannte.
Waldemar schien wie für sie geschaffen zu sein. Er war eine Belohnung für das lange vergebliche Warten. Seine dunklen Augen hatten eine besondere Anziehungskraft. Er scherzte viel, war bodenständig, was sie besonders in Männern schätzte, und intelligent, weltgewandt. Sie war für ihn eine leichte Eroberung gewesen. Sie hatte die Zeit mit ihm einfach genossen. Jeden Tag und jede Nacht. War sie blind gewesen, wie eine Bekannte von ihr, die sich mit Pilzen vergiftet hatte und für drei Tage das Augenlicht verloren hatte? Nur bei Marianne hatte die Blindheit länger gedauert...
"Wenn man nur die wahre Liebe von der falschen unterscheiden könnte, so wie man essbare von giftigen Pilzen unterscheidet..." kam ihr ein irgendwo gelesener Satz ins Gedächtnis. Drei Jahre war sie blind gewesen...
"Vielleicht lag es an mir... Stelle ich zu hohe Ansprüche? Bin ich nicht anpassungsfähig genug? Aber ich kann doch auch nicht mich selbst verleugnen, er ist es einfach nicht wert. Auch weinen werde ich nicht mehr um ihm. Er hat mich ausgenutzt, vergiftet mit Sehnsucht. Ich brauche eine Liebesentgiftung..."
Sie wurden auf einer Kulturtagung auf einander aufmerksam. Er saß im Konferenzraum des Hotels hinter ihr und machte witzige Bemerkungen über den Redner, der ganz vom Thema abgekommen war. Es war ein Treffen von russlanddeutschen Künstler, Maler und Dichter. Sie war als Nachdichterin eingeladen, obwohl sie auch selbst heimlich Gedichte schrieb. Er war ein Dirigent aus Naltschik, eine Stadt im Nordkaukasus. Das bekam sie aus seinem Satz mit, der an seinen Nachbarn gerichtet war. Marianne hatte sich gerade über den Redner geärgert und in Gedanken nach Gegenargumenten gesucht: Wie kann man vor Künstlern so primitiv auftreten, ein typischer Funktionär, der alles verwalten möchte. Zum Schluss sagte er: "Liebe Landsleute, leider kann unser Verein nichts für sie tun, wir haben einfach kein Geld".
Dann wurde eine Pause angesagt.
"Endlich hat er es auf dem Punkt gebracht", sagte Marianne, sich zu einem Mann mittleren Alters umdrehend, und fragte lächelnd: "Habe ich mich nicht verhört? Sagten Sie eben: "Bei uns in Naltschik? Kommen Sie aus der Stadt, die mit Bergen in Hufeisenform umringt ist und Glück bringt?"
"Ja, ich habe dort im Theater als Dirigent gearbeitet..."
"Oh, mein Büro war um die Ecke von der Friedenstraße, auf der Cajkovski Gasse..."
"Das ist ein Wunder... Ich hatte morgens schon das Gefühl, das heute ein Wunder passieren würde... " antwortete der Landsmann sichtlich erfreut und stellte sich vor: "Waldemar."
"Marianne. Sind Sie schon lange in Deutschland?" Es war eine der häufigsten Fragen auf solchen Zusammenkünften.
"Ein halbes Jahr. Ist das viel oder wenig?" fragte er.
"Ich bin schon ein halbes duzend von Jahren hier. Steht das Maria-Denkmal noch immer auf dem Theater-Platz?"
"Oh, ja, nur die Kabardiener sagen jetzt zu der ehemaligen Frau des Zaren Ivan den Schrecklichen, die vor 400 Jahren den Zusammenschluss mit Russland besiegelte, "unsere erste Hure."
"Die arme Frau war nur ein Spielzeug im politischen Spiel und wurde nach sieben Jahre Ehe vergiftet, soviel ich weiß..."
"Sie kennen sich aus. So eine sympathische Landsmännin. Wieso sind wir uns nicht schon vor sieben Jahren über den Weg gelaufen. Dann hätte ich vielleicht nicht damals eine Opernsängerin geheiratet, sondern..."
"Eine Opernsängerin? Ich bin ab und zu in der Oper gewesen und kannte einige. Wie ist ihr Name?"
"Die berühmte Margarita..."
„Sie hatte eine sehr schöne Stimme."
"Mit der sie mich auch gefangen hat, aber später stellte sich heraus, dass sie auch noch eine andere, eine Küchenstimme hat. Ich bin allein rübergekommen", Waldemar machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich habe es mir hier anders vorgestellt. Die Anfangseuphorie ist vorbei, jetzt gibt es mehr Probleme, aber sie sind dazu da, um sie zu bewältigen. Ich denke an einen Musikverlag und bin hier, um mit anderen Komponisten darüber zu sprechen."
"Dann wünsche ich Ihnen viel Glück!"
"Danke, aber vielleicht könnten wir uns duzen?"
"Von mir aus, obwohl wir noch nicht auf Bruderschaft getrunken haben", scherzte Marianne.
"Das können wir ändern. Ich lade Sie, das heißt dich, ins Restaurant ein. Machen wir einen Erinnerungsabend zu ehren der alten Heimat."
"Ich nehmen die Einladung an", antwortete Marianne und wunderte sich über ihren Gemütszustand, aber die Wogen des Flirts schaukelten so angenehm. Sie kam sich so viel glücklicher und jünger vor. Die öde Versammlung hatte plötzlich nach der Pause ihre Langeweile verloren, als sie sich traute, einige kritische Bemerkungen laut auszusprechen, und Waldemar als ersten sie mit heftigen Beifall unterstütze, was viele Anwesende auch dazu bewegte. Die Diskussion wurde sachlicher und konkreter.
Später saß Marianne mit ihrem neuen Bekannten im Hotelrestaurant, hörte sich seinen ausführlichen Bericht über bekannte Orten und Personen an und beobachtete ihn heimlich. Er war heiter, aber strömte Ruhe und Zuversicht aus, hatte dichtes dunkelbraunes Haar mit ergrauten Schläfen, kluge fast schwarze Augen, sehr angenehme Gesichtszüge. Ab und zu strich er gedankenverloren mit der Hand über seiner Stirn und Haar.
"Es ist seltsam“, sagte sie, „ich lebe so lange fern von Kaukasus, aber sie, Entschuldigung, du erzählst darüber so bildhaft, so lebendig, dass ich das Gefühl habe, dabei zu sein..."
"Wir sollten diesen Abend, das Hier und Jetzt genießen. Vor ein paar Monaten, als ich noch verzweifelt an Vokabeln paukte und von Heimweh geplagt wurde, sogar noch vorige Woche könnte ich mir nicht vorstellen, dass sich mein Lebensempfinden so plötzlich ändern könnte. Ich fühle mich einfach glücklich."
"Ja, die Nostalgie macht auch mir manchmal zu schaffen, obwohl ich mich schon recht gut hier eingelebt habe. Trotzdem, wenn man hier jemanden aus derselben Gegend zufällig trifft, ist er fast mehr als ein Verwandter", stimmte sie zu.
Er erhob sein Glas mit Rotwein: "Trinken wir auf glückliche Zufälle..."
"Und machen uns keine falschen Hoffnungen..." neckte sie ihn.
Sein Blick betrübte sich und er fragte besorgt: "Sind sie verheiratet?"
"Ich war es, aber im früheren Leben. Nach Deutschland bin ich allein mit meiner Tochter gekommen und habe hier neu angefangen."
"Ich bewundere dich. Du bist eine außergewöhnliche Frau. Klug, intelligent und sprichst ein so schönes Deutsch, von dem ich nur träumen kann."
"Alles braucht seine Zeit. Musiker haben ein feines Gehör und lernen die Sprachmelodie schneller als andere. Du schaffst es auch."
"Du machst mir Mut. Ich hoffe, wir bleiben im Kontakt."
Marianne reichte ihm ihre Visitenkarte: "Wenn du Probleme hast, ruft an."
"Darf ich auch einfach so anrufen", lächelte er sie warm an.
"Du darfst", antwortete Marianne unbekümmert, warnte sich in Gedanken, nicht zu weit zu gehen und einfach auf dieser kumpelhaften Art ihn zu entwaffnen. "Ich glaube, es ist ziemlich spät geworden. Meine Zimmergenossin hat mich bestimmt verloren und vermisst."
Sie erhoben sich und gingen zum Ausgang, wobei er ihren Ellenbogen berührte und fragte: "Vielleicht gehen wir zu mir? Ich bin allein."
Marianne sah in sanft an: "Wir wollen nichts überstürzen. Es war ein sehr schöner Abend. Ich danke dir. Deine kaukasischen Witze haben mir sehr gefallen."
"Und ich?" fragte er neckend.
"Du auch, ein bisschen", antwortete sie im selben Ton. "Ich wünsche dir einen guten Morgen nach einer guten Nacht." Er blieb etwas enttäuscht und unschlüssig im Foyer stehen, verfolgte ihren leichten Gang, ihre sportliche Figur, dann ging er langsam in sein Zimmer.
Sie sahen sich wieder beim Frühstück. Marianne hatte es eilig, da sie noch ihren Zug erreichen wollte. An ihrem Tisch waren alle Plätze besetzt. Waldemar kam später, suchte sie mit den Augen, setzte sich an den Nachbartisch. Sie winkte ihm grüßend. Als sie mit dem Kaffee fertig war, ging sie zu ihm rüber, um sich zu verabschieden.
"Das ist ein Schlag unter die Gürtellinie", sagte er enttäuscht. Ich hoffte, wir sehen uns noch gemeinsam die Stadt an. Ich konnte sie auch mit dem Auto nach Hause bringen..."
"Es muss nicht sein. Du lebst ja in einer ganz anderen Ecke Deutschlands. Es tut mir leid, aber ich habe schon ein Taxi bis zum Bahnhof bestellt und muss mich beeilen. Die Pflichten rufen und der Zug wird auch nicht warten... Ich werde mich freuen, von dir zu hören." Sie reichte ihm ihre schmale Hand. Er küsste sie und drückte sie mit seinen gepflegten langen Dirigentenfingern, die feucht vor Aufregung waren.
Unterwegs regnete es in Strömen. Der Wind peitschte Regenwellen über die Dächer, riss grüne Blätter von den Bäumen und jagte sie durch die Gegend. Der Zug machte halt an einer kleinen Station. Die Passagiere eilten mit Regenschirmen zum Ausgang.
"Aus dem Spaziergang wäre sowieso nichts geworden", dachte sie, über das geöffnete Buch starrend. Sie musste die ganze Zeit an Waldemar denken. Wie angenehm seine Lippen ihre Hand berührt hatten, wie fragend sein Blick war. Es hatte sie innerlich aufgewühlt. Sie hätte sich auch etwas wärmer von ihm verabschieden können, aber versuchte wie immer, ihre Gefühle zu verbergen. "Ach was, er vergisst mich in drei Tagen. Wir wohnen sowieso zu weit voneinander", versuchte sie sich zu überreden.
Er rief am selben Abend noch an, erzählte, dass er schlecht geschlafen hatte, aber gegen Morgen im Halbtraum eine Melodie gehört hatte und das im gelungen sei, sie sich zu merken und auch aufzuschreiben.
"Du inspirierst mich, Marianne, du bringst mir Glück. Jetzt brauche ich nur noch einen passenden Text und das Lied ist fertig. Schreibst du nicht zufällig Gedichte?"
"Nur für mich."
"Hast du etwas im selben Rhythmus?" er summte ihr eine Tango-Melodie vor.
"Da muss ich nachdenken. Da fällt mir mein altes Gedicht ein "Nicht von dir waren diese Rosen..."
"Und weiter? Das passt doch. Nur das Tempo muss dann etwas langsamer sein."
"Ich schenke es dir"...
Sie musstees ihm am Telefon diktieren, er war begeistert und bat sie, ihm noch andere ihre Gedichte zu schicken. Er rief sie fast jeden Abend an und sang ihr am Telefon seine neuen Lieder vor, sprach von seiner Sehnsucht nach Liebe, darüber, wie sympathisch und seelenverwandt sie ihm war. Marianne fühlte sich verliebt wie zum ersten Mal, half ihm begeistert bei seinen Kompositionen, übersetzte die Lieder ins Deutsche.
Eines Tages rief er an, sagte, er wäre in der Nähe, bei einem Freund, und möchte sie so gerne für ein paar Stunden besuchen. "Ich werde mich freuen", sagte sie so ruhig wie möglich, aber ihre Hand, in der sie den Hörer hielte, war feucht vor Aufregung. Er hatte sich in der Stadt verfahren, rief noch zwei Mal an und sie lotste ihn per Telefon bis zum Beethovenplatz, wo sie sich dann schon nach Mitternacht trafen. Sie stieg in sein Auto. "Endlich sehe ich dich", sagte er und umarmte Marianne so leidenschaftlich, dass es ihr den Atem verschlug. Sie konnte sich schlecht erinnern, worüber sie die wenigen Minuten bis zum Parkplatz gesprochen hatten, wie sie in die Wohnung kamen. Sie wusste nur noch, dass sie vor Aufregung nicht sofort mit dem Schlüssel das Schlüsselloch treffen konnte. Sie hatte den Tisch gedeckt, aber er meinte, er hätte nur Durst, einen kleinen und einen großen. Sie stießen mit Sekt an und gingen ins Schlafzimmer. Sein Verlangen war überwältigend. Es war eine wunderbare Nacht. Er war so geduldig und zärtlich, dann so stürmisch, dass sie sich wie ein aus dem langen Schlaf gewecktes Dornröschen fühlte und ihm unendlich dankbar war.
Zwei Monate vergingen wie im Traum zwischen Telefonaten und gegenseitigen Besuchen. Dann rief er sie kurz bei der Arbeit an und sagte, er habe etwas in Naltschik zu erledigen, aber würde in zwei Wochen zurück sein. Danach blieb das Telefon fast einen Monat stumm.
Zufällig hörte Marianne von einem russischen Konzert in der Stadthalle und ging hin. Sie hatte sich verspätet und blieb erst am Eingang stehen neben einer ebenfalls sich verspäteten Frau.
Auf der Bühne sang eine elegant gekleidete Sängerin mit einer wunderschönen Stimme "Nicht von dir waren diese Rosen".
"Die berühmte Margarita. Ist das Lied nicht schön?" flüsterte die neben ihr stehende Frau. Marianne hatte die Frau auf der Bühne erkannt und bekam einen Stich ins Herz – es war Waldemars Exfrau, die das von ihr gedichtetes Lied sang. "Man sagt, sie hat Krebs. Soll diese Konzertreise schon länger geplant haben, aber lange wird sie nicht durchhalten, so wie sie aussieht...", hörte sie die Allwissende Frau wieder flüstern.
Die Sängerin bedankte sich beim Publikum mit einer Kusshand. Marianne war so von dieser Wendung überrascht, dass sie nichts antwortete und sich wie gelähmt fühlte. Waldemar hatte ihr Lied an diese Frau weitergegeben, vielleicht ist er ja auch gar nicht geschieden gewesen... Wahrscheinlich ist er ein Pflichtmensch. Wenn sie tatsächlich krank ist..."
Sie fühlte, wie eine Träne über ihre rechte Wange lief, strich sie schnell mit der Hand weg und ging raus ins Foyer. Am Ende des Korridors, öffnete sich die Tür gegenüber der Bühne und sie sah Waldemar und Margarita in Begleitung von zwei Zeitungsreportern herauskommen.
"Entschuldigen sie uns, bitte“, hörte sie seine Stimme, „meiner Frau geht es nicht gut. Wir können ihre Fragen morgen telefonisch beantworten, hier ist meine Visitenkarte..." Die Reporter verabschiedeten sich etwas unzufrieden.
Margarita war im langen schwarzen Konzertkleid und sah sehr müde aus. Waldemar legte seine Hand um ihre Schultern und fragte etwas besorgt und leise. Sie schüttelte nur mit dem Kopf. Marianne blieb beim offenen Fenster stehen, um nicht mit dem Paar beim Ausgang zusammenzutreffen. Der Flieder begann zu blühen, aber sein feiner Duft, den sie so liebte, stimmte sie nicht fröhlicher. Eine tiefe Trauer und Ratlosigkeit verbarg sich in ihren Augen.
"Entschuldigen se, haben Sie nicht zufällig ein Handy? Ich muss ein Taxi rufen", hörte sie plötzlich wie durch Watte seine vertraute Stimme. Sie drehte sich um. "Meiner Frau geht es nicht gut", während Waldemar den letzten Satz sprach, erkannte er die gegen das Licht stehende Marianne und wirkte überrascht und unsicher: "Du? Sie?"
"Hier, bitte", reichte sie ihm ihr Handy, "wenn ich irgendwie helfen kann... Sie müssen sechs Mal die fünf wählen." Sie drehte sich wieder zum Fenster. Sie konnte jetzt nichts sagen oder fragen. Er telefonierte kurz, berührte sie kurz am Ellenbogen: "Danke. Es tut mir leid..."
"Ist in Ordnung", antwortete sie kurz und nahm das noch von seinen Händen warmes Telefongerät. Seine Augen flehten sie an, wollten etwas erklären, baten ihn nicht zu verraten... Seine Frau hackte sich bei ihm ein und sie gingen langsam zum Ausgang, wo einige Minuten später das Taxi mit den Reifen quietschte.
"Das ist wie im Schachspiel - eine Pattsituation. Keine der Figuren hat eine Chance", dachte sie verbittert, verließ die Halle, ging langsam durch den Park, atmete tief die frische Frühlingsluft ein und spürte wieder einen Stich im Herzen. Sie atmete tief die frische Frühlingsluft ein, was eigentlich ab und zu weh tat. Sie hatte sich in sich selbst verloren, versuchte ihre Gedanken und Gefühle in den Griff zu bekommen.
Hatte die Einsamkeit, das Bedürfnis sich an jemanden anzulehnen, obwohl sie als starke unabhängige Frau galt, sie so blind gemacht? Es wird immer wieder behauptet, das Männer Angst vor starken Frauen haben, aber die meisten machen einfach aus der Not eine Tugend, sie sind gezwungen stark zu sein, weil ihre Partner nicht den Mut haben, selbst wichtige Entscheidungen zu treffen oder es gibt keinen Partner... Sie hatte sich etwas vorgetäuscht. Wie ein Kind wollte sie an Wunder glauben, Waldemar kam ihr wie eine Belohnung für das lange vergebliche Warten vor. Sie verstanden sich auf Anhieb, seine Anziehungskraft, ihre gemeinsamen Lieder, lange Gespräche an Telefon - war das nicht Seelenverwandtschaft? Er war eine sehr sensible Künstlernatur, aber dass er labil war, hatte sie nicht sofort gemerkt. Unbewusst hat er auch versucht, sich an sie anzulehnen, neu anzufangen. Als seine Frau, mit der er schon so viele Höhen und Tiefen erlebt hatte, wiederauftauchte und um Hilfe bat, wurde sein Beschützerinstinkt wach, er war wieder der stärkere, erfahrenere in dieser neuen Welt. Er hatte auch erstaunlich schnell in Deutschland Fuß gefasst. Geben ist seliger als Nehmen. Sie hatte doch immer bevorzugt, zu geben, sich gefreut darüber und kaum Dankbarkeit erwartet. Es ist sowieso ein zeitlich begrenztes Gefühl. Auf Dauer kann das Dankbar-Sein-Müssen, lästig werden und ist auch nicht mehr uneigennützig.
Marianne blieb am Teich im Park stehen und beobachtete zwei Enten. Der Enterich machte Kreisen um seine Freundin. Als sie zu weit weggeschwommen war, schlug er mit den Flügeln, erhob sich übers Wasser und flog einige Meter schwerfällig, um schneller zu ihr zu gelangen und seinen Schnabel in ihren Federn zu verbergen. Die Ente gackerte aufgeregt, aber beruhigte sich schnell. Sie war sich ihrer Anziehungskraft bewusst und ließ sich umwerben. "Die Frau von Waldemar erlaubt auch, sich zu lieben, wenn sie ihn braucht. Sie ist verzweifelt. Verzweiflung bindet manchmal stärker als Liebe... Er muss es doch spüren..."
Marianne war keine Kämpfernatur, wenn es um ihre eigenen Interessen ging. Für andere konnte sie sich einsetzen, aber für sich - nur in äußersten Fällen. Sie erhob sich und ging zur Bushaltestelle. Die Passanten lächelten freundlich. Ihr trauriges Gesicht passte nicht zum sonnigen Tag. Sie hatte auch nur einen Wunsch, sich zu verkriechen und versuchen, schneller alles zu vergessen. Als der Bus an die Haltestelle angerollt kam, beschloss sie doch lieber zu Fuß zu gehen. Sie wählte die Parallelstraße zu den Bahngleisen, wo mehr Betriebe sich befanden als Wohnhäuser. Am Wochenende war sie wie leergefegt, und das war auch gut so. Hier konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Als ein Güterzug vorbeischoss, schrie sie verzweifelt hinterher: "Warum? Wieso!". Sie musste sich einfach abreagieren. Als der Zug vorbei war, fühlte sie sich zwar erschöpft, aber erleichtert.
"Erwach, es war ein Traum", murmelte sie und hörte noch im Treppenhaus das Telefon klingeln. Der Schlüssel wollte nicht ins Schlüsselloch herein.
Bonn, 2008