Eine Zaubergeschichte im Radio (31.08.2021)

 

Katharina Kucharenko

 
Кucharenko

1954. Als ich neun Jahre alt war und mir ein neues Heft für die Schule besorgen wollte, lief ich in die drei Kilometer entfernte sogenannte Neue Siedlung. Es war im Herbst, an einem ziemlich kalten und ungemütlichen Tag. Der Laden war geschlossen - Mittagspause. Nun musste ich draußen warten. Zum Glück hing ganz oben an einem Straßenpfosten ein Radio und das sendete eine Kindergeschichte. Sie war so spannend, dass ich Zeit und Kälte vergaß. Als der Mann im Radio sagte: "Morgen, meine lieben kleinen Zuhörer, lese ich euch die Geschichte weiter vor", war der Laden schon längst geöffnet. Was sollte ich denn jetzt machen - unsere Nachbarin war nicht da, und ihr Radio schwieg schon eine ganze Weile? Würde ich die Geschichte nicht weiterhören können? Aber ich musste doch wissen, wie sie weiterging und, vor allem, wie sie endete. Zu Hause sagte ich, dass der Laden geschlossen gewesen sei, und ich morgen noch einmal dorthin gehen müsse, um mir das Heft zu kaufen. Meine Oma bedauerte, dass ich so lange da draußen habe frieren und den weiten Weg noch einmal werde machen müssen.

Am nächsten Tag eilte ich zum Laden und hörte mir die Geschichte weiter an, aber sie war immer noch nicht zu Ende. Ich kaufte mir das Heft und suchte auf dem langen Heimweg nach einem triftigen Grund, um auch am nächsten Tag wieder das Geschäft aufzusuchen. Schließlich entschied ich mich, Oma die Wahrheit zu sagen.

Oma hielt es für eine völlig verrückte Idee, drei Kilometer für eine Radiogeschichte zu laufen und unter freiem Himmel zu frieren. Als ich hartnäckig sagte: "Und wenn du es mir nicht erlaubst, laufe ich doch dahin!", blieb ihr nichts anderes übrig als zuzustimmen. Die Geschichte war erst nach vier weiteren Tagen zu Ende. Leider kann ich mich heute an den Inhalt nicht mehr erinnern.

 

1956. Im Unterricht

 

1964. Ein richtiges Radio, ein Sondermodel mit Plattenspieler, konnten wir uns erst in den 60er Jahren leisten. Mein Mann kaufte es einem Ingenieur ab, der wegziehen wollte. Auch ein paar Schaltplatten brachte er mit. Für unseren zweijährigen Sohn Igor war es das größte Vergnügen, auf dem Tisch zu sitzen und Platten aufzulegen. Er suchte sie immer selber aus. Eine mochte er besonders gern, die russische Version des italienischen Liedes "Marina". Er erkannte die Platte an dem gelben Aufkleber. Später hat er sich in ein Mädchen Namens Marina verliebt. Die beiden freuen sich heute zusammen über zwei Enkelkinder.

Nach dem Studium an der Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen wurde ich als Lehrerin an Schulen geschickt, an denen ein Bedarf an Deutschlehrern bestand. So kam ich mit meiner Familie in ein abgelegenes Dorf namens Rakity. Erst 1971 konnten wir dort Fernsehen empfangen. Meine Mutter lieh uns das Geld und ließ ihre ganzen Beziehungen spielen, damit auch wir einen Fernseher, die damals Mangelware waren, kaufen konnten. Er war schwarz-weiß, aber schon ziemlich groß. Sergej, der Vater von Daniel, war damals nur einige Monate alt.

Es hat also ein halbes Leben vom ersten Radio bis zum ersten Fernseher in unserer Familie gedauert.

Heute kann ich zu Recht stolz sein, wenn mein Enkel behauptet, ich sei „ne coole Oma“, die sich nicht nur mit Computern auskennt, sondern sogar eine SMS verschicken kann.

 

 

 

 

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