Am andere Ende der Welt – Fortsetzung der Publikation in deutscher Sprache (Anfang №4-12 – 2018, №1-5 – 2019) (28.02.2021)

 

Нелли Косско

 

Wo gehobelt wird, fallen Späne

 

Am Nachmittag kam die schöne Galina bei uns vorbei und setzte sich schweigend zu Tante Agafja auf die Bank. Dann begann sie zu erzählen. Sonderbar matt und rau klang ihre Stimme, und ich war bestürzt über ihren leblosen, apathischen Blick.

„Du hast gesagt, Fjodor Iwanowitsch: ‚Die wissen schon, was sie tun’, nichts wissen die, wenn du mich fragst. Ich bin sicher: Genosse Stalin und die Parteiführer in Moskau wissen gar nicht, was die hier treiben, anderenfalls würden nämlich viele davon jetzt diese Reise machen, nicht ich oder die da“, zeigte sie auf uns.

„Ich verbitte mir diese Ausfälle!“, sprang Fjodor Iwanowitsch wutentbrannt auf. „Das ist feindliche Propaganda!“

„Sehe ich etwa so aus?“ Galina schien keine Angst zu haben. „Ich will dir mal kurz meine Geschichte erzählen. Ich war fröhlich und lustig, ein achtzehnjähriges, hübsches Ding, als ich heiratete. Und in der Hochzeitsnacht holten sie meinen einzigen, meinen geliebten Ostap ab. Ein ‚Feind des Volkes’ sei er gewesen.“

Als Fjodor Iwanowitsch sie unterbrechen wollte, schnitt sie ihm einfach das Wort ab: „Ach, lass’ das, du musst auch zuhören können. Bist wohl gewohnt, zu bestimmen? Aber mir hörst du jetzt zu, und dann kannst du ruhig deinen Milizionär holen, ich habe nichts mehr zu verlieren. Weißt du auch, was mein Ostap verbrochen hat? Der Dorfschmied mit Hauptschulabschluss? Er hatte den Kremser des Parteisekretärs repariert, ein uraltes Ding, und am nächsten Morgen fuhr der besoffene Parteisekretär damit, geriet in ein Loch auf der Straße und schlug wie ein Wilder so lange auf das Pferd ein, bis das arme Tier wie von Sinnen losraste. Dabei ging die Achse entzwei und der Saufbold wurde schwer verletzt. Das wurde als Sabotage ausgelegt, und mein Ostap war der Schuldige. Nebenbei gesagt, er hatte nur ein Rad am Kremser repariert, nicht die Achse. – Ich bin noch nicht fertig“, sagte Galina schroff, als Fjodor Iwanowitsch Anstalten machte, etwas zu sagen. „Wissen die denn wirklich, was sie tun, frage ich dich? Fünfzehn Jahre habe ich Stunden und Tage gezählt, bis er frei sein wird, mein Ostap. 33 bin ich jetzt, und was hatte ich vom Leben? Eine Strohwitwe, allein, 15 Jahre lang. Wer ist jetzt schuld an meinem verpfuschten Leben, etwa ich? Oder Ostap?“ Jetzt weinte auch Galina.

„Aber, Genossin, du musst doch verstehen, dass es bei so kolossalen Veränderungen, die unser Land nun durchmacht, nicht ohne Fehler abgeht, dafür muss man als Sowjetbürger doch Verständnis haben. Nicht umsonst sagt der Volksmund: ‚Wo gehobelt wird, fallen Späne’.“

„Und warum musste gerade mein Ostap so ein ‚Span’ sein?“, wurde Galina immer aggressiver.

„Irren ist menschlich“, sprach Fjodor Iwanowitsch versöhnlich. „Man muss eben großzügig sein und verstehen wollen.“

„Klug reden, das kannst du, aber wenn ’s dich erwischt hätte ...“ ereiferte sich Galina mehr und mehr: „Hier, nehmen wir zum Beispiel Tante Agafja, muss die noch großzügiger sein? Acht Söhne hat sie im Krieg verloren, nur der Jüngste war ihr noch geblieben. Und wo ist er? Das letzte Kind haben sie ihr auch noch weggenommen und zum Dienst in die Marine geschickt. Ist das gerecht, den einzigen Sohn einer alten, arbeitsunfähigen Mutter wegzunehmen? Es scheint, dass diese deine ‚Späne’ immer dieselben sind. Andere, solche wie dich, meidet dieses Schicksal wohl! Ach, diese beschissene, verrückte Welt!“, sagte sie wütend und verschwand hinter der Bretterwand, wo man sie noch lange schluchzen hörte.

 

Fjodor Iwanowitsch versuchte, noch weiter zu reden, aber keiner gab ihm eine Antwort. Wassilij stieg auf seinen Platz hoch. Tante Agafja machte ihr Bettzeug zurecht, murmelte ein Gebet, bekreuzigte sich und legte sich hin, mit dem Gesicht zur Wand. Der Einzige, der während der hitzigen Unterhaltung kein Wort verloren hatte, war der junge Seemann, der mir von Zeit zu Zeit sonderbare Blicke zuwarf.

Ich schloss die Augen: Wenn es die neun Tage unserer Reise so zugehen sollte, müsste man eigentlich schon jetzt aus dem Zug springen. Neun Tage lang diese Tortur und keine Möglichkeit, ihr zu entrinnen?

Ich bekam keine Antwort auf diese Frage, konnte auch keine erwarten.

 

„Komm’, Emmi, steh’ auf“, hörte ich Mama flüstern. „Jetzt schlafen sie alle, du brauchst keine Angst mehr zu haben. Komm’ endlich, du musst doch etwas essen.“

Ich muss eine Zeit lang geschlafen haben, denn inzwischen war es hinter den Fenstern dunkel geworden. Die Fahrgäste schliefen tatsächlich, so dass nur das rhythmische „Tuk-tak, tuk-tak“ der Wagenräder und von Zeit zu Zeit das Pfeifen der Lokomotive die nächtliche Ruhe störten.

„Mama“, flüsterte ich ebenso leise zurück, „kannst du mir mein Essen nicht nach oben geben?“

Mir graute davor, nach unten klettern zu müssen und den Blicken der Abteilinsassen preisgegeben zu sein, falls sie aufwachten. „Na, komm’ schon“, hörte ich Mama sagen, „ich habe auf der Station heißes Wasser geholt, da brauchen wir nicht trocken zu essen.“

Mit einem schnellen Blick vergewisserte ich mich, dass die Fahrgäste schliefen und ließ mich dann langsam hinuntergleiten.

Mama saß auf dem Bettrand am Klapptisch, darauf war auf sauberem Geschirrtuch unser Essen ausgebreitet: zwei Schnitten Schwarzbrot, zwei Eier und Blechtassen mit heißem Wasser, das unser „Tee“ war.

Im Vergleich zu den herrlichen Sachen, die unsere Mitreisenden am Mittag verzehrt hatten, nahm sich dieses Mahl kläglich aus, und ich war froh, dass es keiner sehen konnte.

Plötzlich übermannte mich ein so starkes Hungergefühl, dass ich hastig die Hand nach meinem Brot ausstreckte. Mama aber blieb unerbittlich: „Du musst dir die Hände waschen, Kind. Zwei Abteile weiter ist eine Toilette, da gibt ’s ein Waschbecken.“

Ich eilte hinaus. Als ich die Tür zur Toilette, die zugleich auch Waschraum war, öffnete, musste ich mich fast übergeben vor Ekel, so betäubend war der Gestank darin. Hastig drückte ich auf den Wasserhahn, nichts anderes im Sinn, als schnellstens ins Abteil zurückzukommen.

Da sah ich mich plötzlich im Spiegel und zuckte zusammen. Aus einem verstörten, bleichen Gesicht starrte mir mein Blick entgegen, gehetzt, verängstigt, wie der eines Tieres. Warum? Wieso? Ich soll das da sein? Ein Mensch?

Angst, Mitleid, aber auch Abscheu regten sich in mir, als ich so reglos vor meinem eigenen Spiegelbild stand und die Welt nicht mehr verstehen konnte.

Jemand rüttelte an der Türklinke. Seit langer Zeit setzte ich mich zum ersten Mal achtlos über einen fremden Willen hinweg; ich gehorchte nicht.

 

„Du bist ein Feigling!”, starrte ich mein Spiegelbild hasserfüllt an. „Ein jämmerlicher, miserabler, elender Feigling!“, beschimpfte ich in Gedanken die Kreatur im Spiegel.

„Weißt du, wie man kein Feigling ist?“

„Einfach aufhören, ewig Angst zu haben!“

„Also, sich das Leben lang ducken, kriechen, anpassen?”

„Nein, aber du hast doch nichts verbrochen, du kannst nichts dafür, was geschehen ist, genau wie tausende und abertausende andere Deutsche …”

„Das habe ich zur Genüge gehört, dieses Wissen hilft aber nicht!”

„Dann muss man sich damit abfinden …”

„Dass man ein böser Außenseiter ist und womöglich immer einer bleibt?”

„Wenn es sich nicht vermeiden lässt …”

„Ich wäre gern eine Russin, dann könnte ich auch wie sie stolz sein auf mein Volk, auf meine Heimat, aber so …”

„Und warum kannst du es nicht auf deine Leute sein?”

„Das ist was ganz anderes. Die Russen haben den Krieg gewonnen, den gerechten Krieg gegen Deutschland …”

„Und die Deutschen? Was weißt du über sie, über Deutschland?“

 

Gar nichts wusste ich, nur ganz wenig, nicht genug, um all das aufzuwiegen, was man gegen Deutschland und die Deutschen vorbringen konnte. Nur Mama hatte immer stur behauptet, dass die Deutschen die Besseren, Klügeren, Begabteren und Vernünftigeren, Fleißigeren und Anständigeren sind. Nach dem, was wir alles in der Schule gelernt hatten, konnte man das leicht widerlegen.

Aber ging es mir denn nicht genau so, wenn man auf Deutschland und die Deutschen zu sprechen kam? Ich schwieg mich dann aus. Wenn aber die Schulkameraden hartnäckig fragten, stritt ich jede Schuld ab und wollte, nein konnte einfach nichts auf „unsere Deutschen” kommen lassen.

Doch was wusste ich schon von diesem Land und den Menschen, mit denen die Ironie des Schicksals mich aufs Engste verbunden, ja verschweißt hatte?

 

Ich sah wieder in den Spiegel: Der Blick war jetzt fragend, hilfesuchend. Aber wer konnte mir schon helfen? Ich war groß genug, um verstehen zu können, dass Mama es nicht schaffen wird. Vielleicht aber Eddie? Oder musste ich mir vielleicht irgendwie selber helfen?

Im Gang blieb ich noch einen Augenblick stehen, ohne mich um die wütenden Blicke der Menschen zu kümmern, die sich inzwischen vor der Toilette angesammelt hatten.

Dann ging ich erhobenen Hauptes zu Mama ins Abteil.

 

„Wo bist du denn so lange gewesen?“, warf Mama mir einen beunruhigten Blick zu.

„Hab’ mir die Hände gewaschen“, murmelte ich und griff hastig nach meiner Tasse.

„Du bist so sonderbar“, ließ Mama mich immer noch nicht aus den Augen, „ist etwas passiert?“

„Nein, ich überlege nur“, gab ich mit vollem Mund zur Antwort.

„Und was, wenn ich fragen darf?“

„Ich habe beschlossen, keine Angst mehr zu haben, vor niemandem und vor nichts.“

„So, so, und wie willst du das anstellen?“

„Weiß nicht genau, aber ich werde es schaffen, ganz bestimmt!“

„Schön wär’ es, ohne Angst zu leben, du lieber Himmel, wie schön wäre das!“, seufzte Mama und räumte den Tisch ab.

Ich kletterte auf meinen Platz nach oben und schaute durchs Fenster.

In der Dunkelheit war nichts zu sehen, außer ein paar Lichtern, die von Zeit zu Zeit in der Ferne auftauchten und dann wieder verschwanden. Da war jemand zu Hause, saß gemütlich am Tisch, vielleicht prasselte im Ofen ein Feuer …

Wie gern hätte ich auch ein Zuhause, wo man sich geborgen fühlen und die Welt, die grausame, so gnadenlose Welt, für eine Zeit vergessen konnte! Aber wir mussten mit unserer Lage fertig werden, und ich hatte doch eben beschlossen, zu kämpfen.

„Eigenfeld“ hieß Mamas Geburtsort am Schwarzen Meer

 

Als ich am nächsten Morgen erwachte, hörte ich im Abteil ein lebhaftes Gespräch. Auf der unteren Bank hatte neben Tante Agafja die schöne Galina, oder Galka, wie alle sie nannten, Platz genommen und fragte, den Blick ihrer kornblumenblauen Augen auf Mama gerichtet, woher wir denn kämen.

„Das ist ein weiter Weg, ein sehr weiter“, seufzte Mama, „aber geboren bin ich im deutschen Dorf Eigenfeld im Schwarzmeergebiet, Zebrikowo hieß es auf Russisch ...“, sie kam nicht weiter.

„Nein, so was!”, fiel Galina ihr freudig ins Wort. „Ich wohnte, nicht weit von Zebrikowo, in einem ukrainischen Dorf! Kennst du vielleicht Satischje?“

„Und ob.“ Mamas Stimme hatte zum ersten mal einen fröhlichen Klang. „Mein Mann war einige Jahre Lehrer in der dortigen Schule!“

„Ihr habt schöne Dörfer gehabt, ihr Deutschen.“

Galina wandte sich an Tante Agafja: „Weißt du, die unterschieden sich von den unseren wie Tag und Nacht. Und erst ihre Felder und Weingärten! Auch heute noch erzählen die Alteingesessenen, was für arbeitsame, fleißige Landwirte das waren!“

„Die Mutter Erde muss man lieben, dann wird sie es hundertfältig vergelten“, entgegnete Tante Agafja, immer noch abweisend und einsilbig.

„Aber Tantchen Agafja“, flüsterte Galina jetzt, „ich versteh’ ja, wenn der da“, zeigte sie auf den Platz, wo Fjodor Iwanowitsch schlief, „wenn der da so redet. Ist vielleicht auch seine Arbeit. Aber du bist doch herzensgut und bist auch eine Bäuerin! Was habt ihr beide voreinander verschuldet, ha?“

Tante Agafja schwieg.

„Galina, sagen Sie bitte, wie sieht es jetzt bei uns zu Hause aus?“ Mamas Frage kam stockend, sie war sichtlich erregt.

„Ach, alles verfällt! Der Krieg hat das Dorf im Großen und Ganzen verschont, doch Sie wissen ja, wie unsere Leute sind, die pflegen die Häuser nicht mehr; sie haben sie ja auch nicht gebaut. Der Putz bröckelt ab, die Dächer sitzen schief und die Gärten sind verwildert.“

„Wohnt – wohnt da jemand drin, ich meine, in den Häusern?“

„O ja, es wurde alles unter unsere Leuten aufgeteilt. Die kümmern sich aber wenig darum.“

„So ist eben der Mensch: was er nicht mit eigenen Händen erarbeitet hat, das schätzt er nicht“, gab Tante Agafja zu bedenken und richtete zum ersten Mal ihren strengen Blick auf Mama: „Und warum fährst du jetzt in die Welt hinein, statt nach Hause zu gehen?“

„Ich darf nicht.“ Mama schien ihre Worte vorsichtig abzuwägen, „Wir haben kein Recht mehr auf unsere Häuser und unser Eigentum.“

„Also, hast du doch etwas angestellt?“, wurde Tante Agafja wieder misstrauisch.

„Mein Gott!“, sagte Mama ungehalten. „Was kann ich schon angestellt haben? Nur weil ich als Deutsche geboren bin? Ist das vielleicht schon ein Verbrechen, frage ich dich? Oder dass wir nach Deutschland umgesiedelt wurden und alles, was wir jahrelang erarbeitet hatten, zurücklassen mussten?“

„Na ja“, murmelte Tante Agafja, „sind wohl auch Unschuldige darunter“, fügte sie nachdenklich hinzu und sah dann zu mir hoch. „Wie lange willst du noch faulenzen, he?“, herrschte sie mich an. „Wir kommen gleich an eine große Station, da holst du gefälligst heißes Wasser! Es ist Zeit für den Tee!“

Ich lächelte; ihre Schroffheit konnte mich nicht täuschen, diese Bauernart kannte ich von unserem Dorf Gorki her – rau, aber herzlich.

Eine Stunde später saßen wir alle einträchtig am Tisch und schlürften unseren Tee, zu dem Tante Agafja eine Menge ihrer Bubliki spendierte. Nur Fjodor Iwanowitsch gesellte sich nicht zu uns, sondern trank allein seinen echten, vom Schaffner servierten Tee und warf ab und zu einen missbilligenden Blick auf unsere Runde, doch das störte niemanden.

Wie so üblich in Zügen und insbesondere während mehrwöchiger Reisen, erzählte jeder seine Geschichte.

Galina wollte jetzt „endlich zu leben anfangen“, auch wenn es in diesem von Gott verlassenen Eis- und Schneegebiet sein sollte, das so geheimnisvoll „Kolyma“ hieß. Man sah ihr an, dass die Ungewissheit ihr Angst machte, doch dann schloss sie leichthin mit dem russischen Sprichwort: „Mit dem Geliebten ist auch in der Hölle das Paradies.“

„Ich bin noch besser dran als meine Freundin, die Odarka“, seufzte sie dann und senkte ihre Stimme, „ihr habt sie doch schon gesehen, oder?“

Und sie erzählte die Geschichte der schlanken Ukrainerin, die im Abteil nebenan saß und kaum ein Wort mit jemandem sprach.

Ihr Ostap, erzählte Galina nun, habe in der Verbannung einen Mann kennen gelernt, der zu seinem besten Freund geworden sei. Er sei auch sehr jung verurteilt worden, so jung, dass er nicht einmal verlobt, geschweige denn verheiratet gewesen war, nun war er ein reifer Mann und hatte noch 15 Jahre Verbannung vor sich. Da er gern eine Familie gründen wollte, Frauen aber in diesem Gebiet Mangelware waren, hatte er Galina gebeten, eine ihrer Freundinnen zu fragen, ob sie ihn heirate.

In Galinas Dorf gab es nach dem Krieg wiederum so gut wie keine Männer mehr, und so entschloss sich Odarka, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen.

Der Mann habe ihr Geld geschickt, und nun sei sie unterwegs. Ja, und diese merkwürdige und nicht landesübliche Ehevermittlung sowie die Frage, was nun daraus werde, seien der Grund, weshalb Odarka vor Angst und Verzweiflung schier vergehe.

„Bist du endlich fertig mit deinen Gruselgeschichten?“, sah Wassilij Galina belustigt an. Wie auf Kommando richteten sich aller Augen auf den jungen Mann: Was sollte diese Frage?

Dieser tat empört: „Mensch, dieses Weibervolk! Da tratschen und quatschen sie ununterbrochen tagelang, und wenn unsereiner nur den Mund aufmacht, hören sie einfach weg! Habt wohl verlernt, zuzuhören, wie? Dabei habe ich schon ein paar Mal versucht, euch einiges zu erklären, zumal ich aus dem Magadaner Gebiet komme …“

Alle starrten jetzt verblüfft und ungläubig auf Wassilij.

„Ehrlich?“, platzte Galina aufgeregt in die Stille. „Aus Magadan kommst du?“

„Jawohl!“ Wassilij, der plötzlich in den Mittelpunkt gerückt war und sich sichtlich geschmeichelt fühlte, äffte ihre Worte nach: „Ja, ja, aus Magadan!”, und genoss unsere Verwirrung.

„Erzählen Sie!“, bestürmten wir ihn jetzt alle. „Wie sieht es da aus? Ist es da wirklich so schlimm kalt? Kann man sich auf die Straße wagen, wo doch da lauter Verbrecher leben?“

„Habt ihr ’ne Ahnung!“ Wassilij war offensichtlich ganz in seinem Element. „Ich habe nirgendwo so viel Ordnung und Anständigkeit gesehen!“

„Und die Verbrecher?“ Tante Agafja war auf der Hut und wollte ihm das nicht ohne weiteres abnehmen.

„Was heißt Verbrecher? Das sind einfach Gefangene!“

„Eben drum!“, schaltete sich Fjodor Iwanowitsch nun ein.

„Wissen Sie vielleicht, was das für Häftlinge sind? Es sind keine Kriminellen, damit Sie Bescheid wissen, sondern Politische.“

„Um so gefährlicher sind die dann!“, konterte Fjodor Iwanowitsch.

„Das meinen Sie. Aber ich habe mit diesen Leuten drei Jahre lang unter Tage in der Grube gearbeitet, da weiß ich ’s wohl besser!“ Wassilij hielt plötzlich inne, griff nach einer Zigarette, murmelte „Geh mal kurz eine rauchen“ und eilte in den Vorraum.

Warum gerade jetzt, mitten im Gespräch?

Alle Blicke richteten sich auf Fjodor Iwanowitsch, als erwartete man von ihm eine Antwort auf diese Frage. Es war jedem klar, dass gerade seinetwegen die Fortsetzung dieses Gesprächs gefährlich für Wassilij sein konnte, sehr gefährlich. Deshalb hatte er auch die Flucht ergriffen.

Die Runde folgte Wassilijs Beispiel auf ihre Art. Man versuchte, das Thema zu wechseln, aber ohne Erfolg. Trotz Galinas Bemühungen blieb die Stimmung im Abteil gedrückt, und so legten sich vor Langeweile wieder alle aufs Ohr. Die Zeit vergehe so viel schneller, meinte Galina.

Ich hätte von Wassilij gerne mehr davon erfahren, wie es auf dieser berüchtigten Kolyma aussehe, aber zu fragen wagte ich nicht. Dann, als er zurückkam, entschloss ich mich doch: „Sagen Sie, Onkel Wassilij ...“

Er lachte so laut auf, dass Tante Agafja aus ihrem Schlummer hochschrak.

„Wie alt bist du denn, Mädchen?“, meinte Wassilij immer noch lachend.

„Bald werde ich 14“, verkündete ich stolz.

„Na, und ich bin erst 27, ‚Nichtchen’! Du nennst mich einfach Wassilij, klar? Ohne ‚Onkel’ bitte, ja?“

(In Russland, besonders auf dem Lande, ist es üblich, dass die älteren Menschen mit „Tante“ bzw. „Onkel“ angesprochen werden)

Ich musste mir den „Wassilij“ abringen, nur damit er mir doch etwas erzähle.

„Nun, was möchtest du wissen? Es ist ein Ort, wie jeder andere“, begann er, „nur dass es da ziemlich kalt und die Verpflegung miserabel ist. Ihr müsst euch auf jeder Station Kartoffeln kaufen, esst euch jetzt satt mit Kartoffeln, denn bei uns da oben ist alles getrocknet: Zwiebeln, Kohl, Kartoffeln, Milch- und Eipulver, einfach alles, außer – Wasser, und das ist im Winter gefroren. Da schmecken die Nahrungsmittel – brrr!“, schüttelte sich Wassilij. „Aber ansonsten ... Weißt du, die Menschen sind da nicht schlecht, ehrlich!“, sah er sich um und senkte seine Stimme. „Aber auch wenn es Häftlinge sind, ich sage dir, das sind hochanständige Menschen. Sehr oft sind diejenigen, die freiwillig angeheuert wurden, die Schlimmeren. Besonders, Mädchen, musst du dich vor den Männern in Acht nehmen, die sind da ganz verwildert. Galina hat schon recht, und Frauen sind bei uns tatsächlich Mangelware. Da dreht manch einer durch, der 10 bis 15 Jahre ohne Frau auskommen musste ...“

Ich war verwirrt und schämte mich, dem zuzuhören, jedoch Wassilij schien es nicht zu bemerken und sprach seelenruhig weiter: „Du siehst eigentlich erwachsener aus als du bist, da wirst du es mit Sicherheit schwer haben. Also, sei auf der Hut ...“

Das alles wusste ich schon von Mama: Sie hatte mir oft genug eingebläut, was für schlimme und bösartige Wesen es wären, diese Männer, die nichts anderes im Sinn hätten, als sich ein Mädchen zu nehmen und dann sitzen zu lassen. Doch im Augenblick machte ich mir darüber überhaupt keine Gedanken, denn Männer interessierten mich nun wirklich nicht, und wenn, dann nur in Zusammenhang damit, dass man Angst vor ihnen haben musste.

Dass aber der Märchenprinz, von dem jedes Mädchen in diesem Alter träumt, auch ein Mann ist, auf diesen Gedanken wäre ich damals nie gekommen.

 

In den unendlichen Weiten Russlands …

 

Tag und Nacht stampfte unser Zug durch die schier unendlichen Weiten Russlands. Wir hatten schon längst den Ural hinter uns gelassen. Der Übergang auf den anderen Kontinent vollzog sich enttäuschend unbemerkbar, ja prosaisch. Nur die Inschrift auf einem grauen Stein verkündete, dass wir „die Grenze zwischen Europa und Asien“ überquert hatten.

Die Landschaft hier unterschied sich nicht wesentlich von der europäischen, obwohl nach dem Ural Sibirien anfängt, das Sibirien, von dem man so viel Unheimliches erzählte. Ich konnte damals nicht wissen, dass dieses Sibirien auch weit war, weit, wie Russland selbst, und dass unser Zug fast auf der südlichen Grenze Sibiriens fuhr, während dieses Gebiet sich im Norden bis hinter den Polarkreis erstreckte, wo sich eben all das Unheimliche befand: Gefängnisse, Deportationslager und Verbannungsorte.

Doch die Strecke, die die Verurteilten zurücklegten, bevor sie in der Hölle landeten, war fast immer die gleiche. Die „Transsib“, die Transsibirische Eisenbahn, war 1903 von Zar Nikolaus II. eingeweiht und zuvor im Laufe von Jahrzehnten von Häftlingen und Zwangsarbeitern gebaut worden, wie übrigens in der Sowjetzeit überhaupt alle „großen Bauten des Kommunismus“ – eine alte russische Tradition also.

Hier unten, im Süden Sibiriens, raste unser Zug durch dichte Mischwälder und weite, unendlich weite Täler mit Wiesen und Feldern, durch die sich schmale Feldwege und Pfade wanden. Man fuhr Hunderte von Kilometern, ohne ein Dorf, eine Stadt oder Menschen zu sehen, und der Urwald hier hieß Taiga, die eigentlich gar nichts Bedrohliches an sich hatte. Ganz im Gegenteil: Es stockte einem der Atem, wenn man die hohen majestätischen Tannen, die in einer unbeschreiblichen Ursprünglichkeit zu beiden Seiten der Eisenbahnlinie emporragten und wie blaugrüne Meereswogen bis zum Horizont strebten, wo sie sich in den unendlichen Weiten der wilden Natur zu verlieren schienen. Trotz der Tausende von Kilometern, die uns jetzt von unserem Dorf Gorki trennten, fand ich in dieser Wildnis doch mehr Gemeinsamkeiten mit den Urwäldern von Kostroma als Unterschiede.

Und je länger ich durch das Zugfenster schaute, desto schwerer wurde mir ums Herz; denn trotz Hunger, Not und Hass war das von Gott und der Welt vergessene russische Dörfchen Gorki für mich zu meiner kleinen Heimat geworden, nach der ich immer stärkeres Heimweh bekam.

Während solcher Zugfahrten versucht jeder Fahrgast mit der Eintönigkeit der Reise auf seine Art fertig zu werden, so auch die Leute in unserem Waggon.

In einem Abteil bildete sich eine Gemeinschaft leidenschaftlicher Kartenspieler, das nachfolgende Abteil wurde von Jugendlichen beschlagnahmt. Gitarrenklang, Gesang und fröhliches, unbeschwertes Lachen herrschten dort bis tief in die Nacht hinein.

In anderen Abteilen erzählten die Leute sich weitschweifig und bedächtig – sie hatten ja unendlich viel Zeit und Muße – Lebensgeschichten und allerlei Begebenheiten. Nirgendwo gibt es so aufmerksame Zuhörer wie in den Zügen während langer Reisen, in deren Verlauf man fast jeden im Waggon gut kennen lernt und sich auf irgendeine unerklärliche Weise mit dieser Gemeinschaft verbunden fühlt.

Nicht zu übersehen war noch eine Gattung reisender Männer und Frauen, die sich die Zeit mit dem Genuss von Alkohol vertrieb. Sie fingen schon morgens damit an, um, wie ein lustiges Männlein erklärte, „den gestrigen Kater zu beschwichtigen“, und füllten dann im Laufe des Tages auf größeren Stationen die geschrumpften Bestände auf, wobei sie genauestens darauf achteten, dass auch für „den Kater am nächsten Morgen“ genug übrig blieb.

Es machte Spaß, die Fahrgäste und insbesondere die letztgenannte Kategorie zu beobachten. Mir fiel auf, dass diese selten nüchternen Männer und Frauen auf irgendeine Weise großzügig waren. Nie gab es Streit um Geld oder Wodka, obwohl das besagte lustige Männlein zum Beispiel kaum etwas spendierte und wie ein Blutegel an der Gruppe hing. Aber keiner der lustigen Brüder schien dem Bedeutung beizumessen.

Auch unser Milizionär schien sich mit nichts anderem zu beschäftigen, als den ganzen Tag über mit Fjodor Iwanowitsch im Speisewagen Wodka in sich hineinzuschütten. Jeden Morgen holte er zerknirscht und übelgelaunt seine „Gülte“ bei Mama ab, und zwinkerte Fjodor Iwanowitsch mit blutunterlaufenen Äugelchen zu, die fast völlig im aufgedunsenen Gesicht verschwunden waren. Dann zogen sie ab.

Man war in unserem Abteil froh, wenn sie weg waren, aber auch etwas besorgt über diese Allianz und solange Fjodor Iwanowitsch anwesend war, wurden keine freimütigen und „herzlichen“, wie man in Russland sagt, Gespräche mehr geführt.

Nur einmal begehrte Galina auf, als unser Milizmann gewohnheitsmäßig nach „seinem Geld“ verlangte.

„Das ist doch unverschämt! Warum nimmst du die Frau so aus?“

„Geht dich einen Dreck an!“, schnauzte der Milizmann sie an.

„Hast du denn kein bisschen Anstand, du Missgeburt eines Menschen?“, mischte sich jetzt auch Tante Agafja ein. „Was für eine Mutter hat dich bloß geboren und großgezogen?“

Der Milizmann sah sie amüsiert an: „Ich mache eine Weltreise, verstehste, Muttchen, und die muss ordentlich, sein!“

„Ordentlich?“, schien so viel Unverfrorenheit Galina den Atem zu verschlagen. „Du bist doch auf Dienstreise, oder?“

„Na und?“ Offenbar verstand der Milizionär nicht, worauf sie hinaus wollte.

„Und die Dienstreise wird doch vom Staat bezahlt, nicht wahr?“, bohrte Galina hartnäckig weiter.

„Das hat nichts zu sagen“, begann sich der Milizmann jetzt zu ärgern, „es tut den Verbrechern nur gut, wenn sie die Ehre haben, einem Milizmann was abzugeben. So, und nun halt die Klappe!“

Fjodor Iwanowitsch und der Milizionär wieherten wie zwei übermütige Hengste.

„Also, los Alte!“, wandte sich der Milizionär an Mama. „Heraus mit dem Geld! – Wird ’s bald?“, brüllte er, als Mama keine Anstalten machte, in ihre Jackentasche zu greifen.

„Und wenn Sie mich auf der Stelle erschießen, ich gebe Ihnen kein Geld mehr“, sagte Mama mit ruhiger Stimme.

Der Milizmann wütete wie ein Wahnsinniger, versprach „alle feindlichen Elemente“ zu überführen und zog dann, schmutzig fluchend, mit Fjodor Iwanowitsch ab.

„Das hättest du schon längst tun sollen!“, fuhr Tante Agafja Mama an. „Kauf’ lieber deinem Kind was zu essen, statt dem Fettwanst alles in den Rachen zu stecken! Ich sehe ja, dass ihr euch jede Kopeke vom Mund abspart, bin doch nicht blind!“

„Ach was“, winkte Mama resigniert ab, „ich hab’ ja nur noch ein paar Rubel. Mein Gott, ich wage nicht einmal daran zu denken, was passiert, wenn wir keine Geldüberweisung von meinem Sohn bekommen! Denn dann ...“

„Gräm’ dich nicht so“, tröstete Tante Agafja meine Mutter, „es finden sich immer Menschen, die einem weiterhelfen. Du darfst bloß nicht verzagen. Unser Allmächtiger wird dich nicht im Stich lassen.“

Sie schlug ein Kreuz und murmelte ein kurzes Gebet.

Ich ging auf den Flur, damit keiner meine panische Angst sehen konnte, die Angst davor, irgendwo, wo kein Mensch uns kannte, verhungern oder erfrieren zu müssen. Ich löste meine Zöpfe und begann das Haar zu kämmen.

„Was wird bloß aus uns werden?“, hämmerte es unaufhörlich in meinem Kopf. „Was können wir bloß tun?“

Komisch, aber jetzt wollte ich nicht mehr sterben, wie es früher manchmal mein Wunsch war. Das Leben schien mir zwar ziemlich schwierig, aber dennoch lebenswert zu sein. Nein, sterben wollte ich auf gar keinen Fall, und dieser Gedanke machte meine Angst noch größer, noch schlimmer, so dass ich vor lauter Verzweiflung am liebsten laut losgeheult und um Hilfe geschrieen hätte.

 

Menschen erster und dritter Klasse

 

„Bewundern Sie auch so gerne die Natur?“ Die Frage kam so unerwartet, dass ich meinen Kamm fallen ließ.

„Ewalds“, sagte der junge Seemann aus unserem Abteil und streckte mir seine Hand entgegen.

„Emmi“, murmelte ich verlegen, wobei mir die Röte ins Gesicht stieg. Die ausgestreckte Hand übersah ich geflissentlich, denn was würde Mama dazu sagen, wenn ich, mir nichts, dir nichts, fremden Männern die Hand gäbe!

„Sie haben wunderschönes Haar, wie –“, er suchte verlegen nach einem passenden Wort und platzte dann heraus, „wie eine Hexe!“

Froh darüber, dass er es glänzend hingekriegt hatte, strahlte er mich aus seinen blauen Augen an.

Ich war beleidigt: Sollten das vielleicht diese schlimmen Männer sein, die einem mit strahlendem Gesicht Gemeinheiten an den Kopf warfen?

„Stimmt etwas nicht?“ Ewalds Gesichtsausdruck war jetzt unsicher, ja besorgt.

Ich schwieg verletzt.

„Ich vielleicht – falsch; ich bin kein Russe; kann wenig Russisch“, klang es entschuldigend.

Tatsächlich, jetzt erst fiel mir auf, dass er ziemlich fehlerhaft Russisch sprach. Was war das nur für ein komischer Kauz?

„Wissen Sie, ich habe gehört, wie Sie mit Ihrer Frau Mutter deutsch sprachen“, begann er in dem perfektesten Deutsch, das ich je in Russland gehört hatte.

„Sind Sie Deutscher?“ Ich sah mich dabei schnell um, erinnerte mich aber noch rechtzeitig daran, dass ich mir vorgenommen hatte, keine Angst mehr zu haben.

„Nein, das nicht“, Ewalds lächelte, „ich bin Lette. In meiner Heimatstadt Riga sprechen die Alteingesessenen fast alle noch Deutsch; auch bei uns zu Hause sprechen wir fast ebenso gut deutsch wie lettisch; nur mit dem Russischen will es nicht so richtig klappen“, meinte er entschuldigend.

Ich musste lachen, als ich an die „Hexe“ dachte: „Sie haben mich eben eine Hexe genannt“, übersetzte ich seinen Vergleich von vorhin.

„Um Gottes willen, nein, ich meinte, Sie hätten Haare wie eine Nixe!“

Jetzt schauten wir beide verlegen zu Boden.

„Waren Sie schon mal in Riga?“, fragte er dann aus lauter Verzweiflung.

„Nein“, antwortete ich trocken, „aber in Gorki.“

„Ist das eine größere Stadt?“, wollte er wissen.

„Ein kleines Dorf, mitten im Urwald“, tönte meine Antwort schroff und ungehalten. Was bildete sich dieser Stadtmensch bloß ein? Als ob man an meiner Dorfkleidung, an den Bauernstrümpfen, am Kopftuch, das ich nicht abnehmen durfte, weil Mama es verboten hatte, nicht sehen konnte, woher ich kam!

Ob er sich über mich lustig machen wollte? Es schien aber nicht der Fall zu sein. Ewalds war ob meiner Ungehaltenheit ganz rot geworden, stammelte ein paar Worte der Entschuldigung und schlug vor, auf der nächsten Station ein wenig spazieren zu gehen.

„Heiliger Strohsack!“, dachte ich erschrocken. „Was wird Mama bloß dazu sagen?“

Aber es war zu verlockend, auch einmal hinauszugehen auf den Bahnsteig und sich genauer umzusehen. Es schmeichelte mir auch, mit einem so gut aussehenden Jungen in todschicker Marineuniform am Zug entlang zu schlendern und die neidischen Blicke der Mädchen aufzufangen! Aber Mama würde es sicher nicht gutheißen, dass ein Mädchen in meinem Alter mit Jungs spricht oder – Gott bewahre! – auch noch spazieren geht! Andererseits konnte ich mich auch nicht vor Ewalds blamieren!

Hastig flocht ich meine Zöpfe und ging ins Abteil zurück.

Es war eine Katastrophe!

Als der Zug am Bahnhof von Nowosibirsk langsamer wurde, murmelte ich verlegen: „Muss mir ein bisschen die Füße vertreten“, und eilte, bevor Mama etwas sagen konnte, hinaus auf den Gang, wo schon eine Menge kauflustiger Fahrgäste ungeduldig drängelte. Auch Ewalds war dabei und begrüßte mich stürmisch.

Es war schon ein komisches Gefühl, nach einigen Tagen Fahrt wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Ich taumelte leicht und machte vorsichtig einige unsichere Schritte, immer darauf bedacht, nicht von der hektischen Menge mitgerissen zu werden, die wie eine riesige, bunte Woge aus dem Zug schwappte und sich mit rasanter Geschwindigkeit in Richtung Bahnhofsvorplatz mit dem imposanten Bahnhofsgebäude im Hintergrund wälzte.

Begeistert sah ich diesem Treiben zu. Unschlüssig, ob ich mich nun auch in den Trubel stürzen oder weiter Abstand wahren und mich mit der Rolle eines Zuschauers begnügen solle, ging ich dann langsam den Zug entlang, sah nach rechts und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen: ein Schauspiel, ein Märchen bot sich mir da, etwas, wovon ich nur noch wage Erinnerungen hatte.

Aus einem 1. Klasse-Waggon stiegen Passagiere aus – schöne, gepflegte Frauen in teuren Seidenkleidern, mit hochgesteckten Frisuren und knallroten Lippen und Fingernägeln, solide Herren, die ihre dicken Brieftaschen schon beim Aussteigen aus den Jacketttaschen holten, saubere, wohlgenährte, artige und – man sah es ihnen regelrecht an – 4 verwöhnte Mädchen und Jungen („feine Pinkel“, würde Kostja, unser Anführer in Gorki, sagen).

Diese für meine damaligen Begriffe außerirdischen Wesen stiegen nicht aus, nein, sie flatterten wie exotische Falter aus dem Waggon, ohne die Umgebung eines Blickes zu würdigen – selbstbewusst, über alles erhaben, über alle Maßen arrogant.

Sie hielten sich von der Menschenmenge auf dem Bahnhofsvorplatz fern, ignorierten sie gar, wandelten – ja, ja, sie gingen nicht, sie wandelten – paarweise oder in kleinen Grüppchen auf dem Bahnsteig, aßen Pralinen und Eis, unterhielten sich, lachten …

Und über allem hing eine Duftwolke von teurem Parfüm!

Mein Gott, dass es noch so was auf der Welt gab!

Während der sieben Jahre unserer Verbannung in der Wildnis der Kostromawälder hatte ich völlig vergessen, dass es eine andere Welt gab als unser armseliges, hungriges Dasein, dass meine Mama und ihre Freundinnen nicht immer diese ausgemergelten Gestalten mit eingefallenen, hungrigen Augen und totem Blick waren, dass auch sie vor nicht allzu langer Zeit solche schönen Kleider und Schuhe trugen und trotz der vielen Schicksalsschläge auch fröhlich sein konnten.

Damals, als sie noch nicht zu aussätzigen Verbrecherinnen abgestempelt worden waren …

Ich war so sehr von dem Schauspiel vor dem Schlafwagen fasziniert, dass ich nicht sofort verstand, was Ewalds gerade sagte, darum schaute ich ihn fragend an.

„Nun schauen Sie sich bloß diese überheblichen Zicken da an!“, deutete er mit der Hand auf ein Grüppchen am Schlafwagen.

Ich folgte seinem Blick und sah zwei Mädchen zu uns herüberschauen. Plötzlich rümpfte eine ihre sommersprossige Stupsnase, zeigte in unsere Richtung und flüsterte ihrer Freundin etwas ins Ohr – und schon krümmten sich beide vor Lachen.

Ich kannte den Grund dafür nur zu gut, konnte mich aber nicht vom Fleck rühren. Auch ich würde mich an ihrer Stelle fragen, was so ein braver Marineoffizier mit einem Dorfmädchen in ärmlicher, bäuerlicher Kleidung gemein haben könne! Der Prinz und das Aschenbrödel?

Es war tatsächlich zum Lachen! Oder zum Weinen?

Damit es nicht so weit kam, machte ich kehrt und lief zu unserem Waggon. Ich wollte weg von dieser so schönen, doch fremden und feindlichen Welt, weit weg …

 

Selbst Orwell würde staunen

 

Sehr bald, spätestens nach dem ersten Schultag in meinem Kolyma-Dasein, musste ich feststellen, dass es gar kein Weglaufen gab, dass ich immer wieder in die schillernde und reiche Welt der oberen Schicht der Magadaner Gesellschaft hinein geriet – für einige Stunden zwar, nicht gerade willkommen, aber geduldet, doch unweigerlich und konsequent, um dann genau so konsequent und unweigerlich wieder in meine Welt, die der Verfemten, der Verbannten und ehemaligen Häftlinge zurückgeworfen zu werden. Denn da ich erst 15 war und noch nicht zum Frondienst verpflichtet werden konnte, durfte ich von des Kommandanten Gnaden die Schule besuchen, und dort waren ausnahmslos alle „Fahrgäste der Schlafwagen erster Klasse“, außer mir selbstverständlich.

Grob skizziert, bestand die Gesellschaft auf der Kolyma, „dem Planeten der Gefangenen“, aus vier Schichten: den Gefangenen, den Verbannten, den Bewachern und Aufpassern und den so genannten „Freien“.

Die Sträflinge in den unzähligen Lagern – zum großen Teil waren es politische Häftlinge – mussten die unschätzbaren, ja unermesslichen Reichtümer dieser Gegend erschließen und waren extrem billige Arbeitskräfte, für die nicht einmal Kosten für eine Rückreise entstanden: Die meisten krepierten elendig in Eis und Schnee, vor Hunger und Schwerstarbeit, die wenigen, die wie durch ein Wunder diese Torturen überlebten, „durften“ hier in der Verbannung weiterleben.

Es war ein exakt funktionierendes und durchorganisiertes System im ersten Arbeiter- und Bauernstaat: Die Gefangenen wurden in den Fernen Osten transportiert und in den Häfen Nachodka und Wanino auf Frachtschiffe verladen, die sie als halbverhungerte, lebende Leichen nach wochenlanger Seereise in Magadan einschifften. Hier wurden sie im Hafen Nagajewo abgeladen und in ein Aufnahmelager gebracht, wo schon Bestellungen auf die „neue Ware“ bereit lagen – von Gefangenenlagern im Berg- und Straßenbau und in Forst- und Agrarbetrieben. Es war ein Glück, wenn es ein Lager in der Nähe von Magadan war, das die Versorgung der Hauptstadt der Region gewährleisten sollte.

Hier war das Klima maritim, also relativ mild. Im Winter kletterte die Quecksilbersäule der Thermometer „nur“ bis unter minus 45°; es gab keine Minustemperaturen von 60°, wie im Inneren des Kontinents.

Die meisten gefangenen Zwangsarbeiter wurden jedoch bis zu 700 Kilometer landeinwärts gebracht, in die Lager, die der Verwaltung der Bergbauindustrie unterstanden, hauptsächlich in die vielen Gold- und Kohlegruben.

Die katastrophalen Verluste an menschlichem Material beunruhigten weder die Funktionäre vor Ort, noch die Kremlleitung. Man holte aus den Häftlingen alles heraus, ließ sie draufgehen, besorgte sich „neue Ware“ und quetschte auch diese aus, und das Jahrzehnte lang! Denn in der Geschichte der UdSSR gab es immer wieder Momente, wo „die Feinde des Volkes und Vaterlandsverräter besonders aktiv wurden“. So konnte man guten Gewissens neue Zwangsarbeiter aus der eigenen Bevölkerung rekrutieren.

Mit der Zeit gewannen die Kremlherren darin eine gewisse Routine. Nach den Säuberungen, denen Ende der 30er Jahre zahlreiche vermeintliche „Trotzkisten“ und „Abweichler“ zum Opfer fielen, folgte der nächste Höhepunkt der Verhaftungswellen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Jetzt waren die so genannten „Vaterlandsverräter” an der Reihe: ehemalige Kriegsgefangene, die in die Hände der Deutschen geraten waren und nicht, wie befohlen, Selbstmord begangen hatten, vermeintliche und echte Kollaborateure, ja ganze Völker und Volksgruppen – wie die Deutschen.

Die Maschinerie mahlte unermüdlich, kam nicht zum Stehen, schluckte immer wieder neue Gruppen von Menschen, um sie am Ende als abgearbeitetes Material – Krüppel, lebende Wracks und Leichen – auszuspucken.

Das alles vollzog sich ganz legitim unter dem Dach der Hauptverwaltung der Gefangenenlager (GULag, auf Russisch: Главное Управление Лагерей), die billige Arbeitskräfte für die „großen Bauvorhaben des Kommunismus“ lieferte, darunter eben auch an den Trust „Dalstroi“, dem das Lagersystem in unseren Breitengraden unterstand. Die Amnestie der Gefangenen von 1953-1954 war das Todesurteil für dieses gut geregelte und perfekt funktionierende System, der Anfang vom Ende des Trusts „Dalstroi“. Aber leider kam es erst später, nach Stalins Tod, will sagen, viel zu spät für tausende und abertausende Opfer.

Verwaltet und bewacht wurden die Lager von Militärs und mit Hilfe einer beträchtlichen Zahl der so genannten „Freien“.

Das waren solide ausgebildete, hochqualifizierte, meist parteitreue Fachleute aus allen Wirtschaftsbranchen, die man vorwiegend in Moskau und Leningrad (heute St. Petersburg) anwarb.

Nach dem Krieg kamen dazu noch junge Fachleute, die vom Trust „Dalstroi“ von Universitäten und Hochschulen angefordert oder von Komsomol-Oganisationen im ganzen Land nach Magadan delegiert wurden.

Die „Freien“, die sich also freiwillig für einige Jahre verpflichteten, hatten die leitenden Posten in den Betrieben und im Dienstleistungssektor inne, sprich in allen für den Trust lebenswichtigen Betriebszweigen. Sie waren Leiter der Bergbau- und Elektrizitätswerke, Direktoren der Stadt- und Siedlungsverwaltungen, der Krankenhäuser, der Schulen und Kindergärten. Sie arbeiteten als Ingenieure, Techniker, Ärzte etc., waren zuständig für die Versorgung und den Verkehr. Die „Freien“ waren in der Regel attestiert, das heißt, sie genossen den Militärsstatus und waren also gehalten, widerspruchslos alle Beschlüsse der Leitung zu erfüllen und allen Befehlen nachzukommen. Jeglicher Ungehorsam oder gar Konflikt mit der Leitung des Trusts „Dalstroi“ zog Verweise, Strafen, Entlassungen und sogar Verhaftungen nach sich.

Das raue Klima und die schweren Lebensbedingungen in der Kolyma, wo in vielen Orten das Thermometer im Winter mit stolzen minus 60° aufwartet, wurden den „Freien“ durch eine ganze Reihe von Privilegien kompensiert, welche auch viele Glücksritter auf den Plan riefen: Jeder, der sich für mindestens 3 Jahre verpflichtete, bekam doppelten Lohn bzw. später doppelte Rente (beides war ohnehin viel höher als sonst in der UdSSR), doppelte Anrechnung der Arbeitsjahre für die Rente, längeren Urlaub. Darüber hinaus kamen sie in den Genuss der vom Staat subventionierten Nahrungsmittel, kostenloser Wohnungen, besserer medizinischer Versorgung, und im Unterschied zum übrigen Land gab es hier viel mehr Waren im Angebot.

Außer diesen „Freien“ gab es die „relativ Freien“, die verbannten „Feinde der sozialistischen Heimat“, zu denen auch die Deutschen gehörten, und die ehemaligen politischen Häftlinge. Sie alle waren insofern „frei”, als sie sich im Umkreis von 20 bis 30 Kilometern frei bewegen durften.

In diesem Umkreis befand sich auch die Schule, die ich besuchen durfte.

Ein Kenner der Nachkriegsgeschichte der Deutschen in der UdSSR wird sofort aufhorchen: „Wieso 20 bis 30, wo doch die Norm 10 Kilometer war?“, und er wird mit seinem Einwand recht haben, aber nur teilweise; denn das war nur einer der Vorteile, die wir, im Vergleich zu den Deutschen in den Verbannungsorten anderswo, hatten. Es gab noch andere, dazu jedoch später.

Aber wer wäre schon so verrückt, an eine Flucht aus diesem verwunschenen, extrem dünn besiedelten, wilden Land zu denken, in dem kein Mensch im Winter eine Überlebenschance im Freien hat, wo der Sommer zu kurz ist für solche Abenteuer und wo die Wachen auf den Strassen zu wachsam sind?

So eine Flucht wäre mit Sicherheit Selbstmord, und nur wer nichts mehr zu verlieren hatte und dem Lagerdruck nicht standhalten konnte, schritt zu solch einer Verzweiflungstat, obschon es, wie gesagt, glatter Selbstmord war.

Also waren wir alle frei, die einen mehr, die anderen weniger – aber doch frei.

George Orwell wäre erstaunt gewesen ob der Fülle der Paradoxien, die er in unserer Gegend hätte beobachten können.

 

Die unberührte Schönheit Sibiriens

 

Unser Zug „Moskau-Wladiwostok” schlängelte sich inzwischen durch die malerischen, mit dichten Mischwäldern bewachsenen Berge des Altaigebietes mit seinen üppigen Alpenwiesen, die gerade in diesem sommerlichen Monat in voller Blüte standen. Unseren Augen bot sich ein unbeschreiblich schönes Bild von leuchtenden blauen, roten, gelben und bunten Blumenteppichen.

Die Menschen im Zug drängelten sich an den Fenstern, schrieen begeistert durcheinander, schüttelten ungläubig die Köpfe. Wer hätte auch ahnen können, dass Ostsibirien mit dieser üppigen Vegetation aufwartete, mit dieser überwältigenden Schönheit und Vielfalt? Denn in aller Regel wusste man ja nur, dass es in Sibirien furchtbar kalt ist im Winter – und das war ’s.

Es war lange sehr still in unserem Waggon, so stark war man von dem schillernden Schauspiel beeindruckt.

Aber auch sonst schien den meisten erst jetzt bewusst geworden zu sein, dass man zum ersten Mal die Gelegenheit hatte, die eigene Heimat kennen zu lernen und dass man ihr, trotz der finsteren Geschichte, viele schöne Seiten abgewinnen konnte – die ostsibirischen Steppen, die an Stelle der westsibirischen Weiten traten, die unberührte Natur, die eigenartige Architektur der Städte mit ihren zum Teil altertümlichen Holzgebäuden, die mit Holzschnitzereien und mit feinsten Spitzen geschmückt waren.

Es war ein so ungewöhnlicher Anblick, dass man sich in Irkutsk nicht wie üblich auf den hausgemachten Proviant stürzte, den auch hier Frauen auf dem Bahnsteig feilboten, sondern wie gebannt das prächtige, imposante Bahnhofsgebäude betrachtete – fasziniert, verzaubert, sprachlos.

Und dann kam der Höhepunkt.

Ich war gerade auf meiner Bank eingedöst, als es plötzlich von allen Seiten scholl: „Der Baikal! Der heilige Baikal, der glorreiche See!”

Es klang ehrfürchtig und feierlich, und genau so war der Gesichtsausdruck der Menschen, die gebannt durch die Fenster sahen.

Ich sprang auf und eilte zu den anderen, um zu erfahren, was es da besonderes zu sehen gebe – und vergaß die Welt um mich herum! In einem Tal unterhalb der Eisenbahnlinie lag, von allen Seiten von hohen Bergen umgeben, der größte und tiefste Süßwassersee der Erde, der so berühmte, sagenumwobene, vom russischen Volk innig geliebte und vielfach als heilig besungene Baikalsee.

Ruhig, majestätisch und erhaben präsentierte er sich in tiefstem Blau. Und blau war alles ringsum: der See, die Berge, die Wälder darauf, ja sogar die Luft.

Unser Zug wurde langsamer und blieb dann stehen.

„Alles, was schnell laufen kann, ab zum Baikalsee!“, schrie unsere Schaffnerin in den Gang. „Wir machen hier 20 Minuten Halt, ein Schnellzug muss vorbei!“

Ewalds ergriff meine Hand und zog mich auf den Gang: „Kommen Sie, wir schaffen es doch mit links!“

Unentschlossen wandte ich mich zu Mama um.

„Du gehst nirgendwohin!“, meinte sie resolut. „Es fehlte noch, dass du vom Zug zurückbleibst!“

Man sah meiner Mama die panische Angst an. Kein Wunder, sie hatte schon zwei Kinder in den Irrungen des Krieges verloren, und nun hatte sie umso mehr Angst um das letzte, das ihr noch geblieben war.

„Hei, Töchterchen“, kam mir unerwartet Tante Agafja zu Hilfe, „hier, nimm die Flasche und bring mir wenigstens einen Schluck Wasser aus dem Baikal, es soll wie kein anderes auf der Welt schmecken! Nun, was stehst du noch hier herum? Los!“

Ich nahm hastig die Flasche an mich, versuchte, meiner Mutter nicht in die Augen zu schauen, und stürmte aus dem Wagen – den anderen hinterher, die den Berg hinunterliefen. Mit Erleichterung sah ich, dass auch aus anderen Wagen Menschenmengen heraus quollen, als presste eine gewaltige Hand den Zug aus.

„Ohne seine Passagiere wird der nicht abfahren“, dachte ich etwas beruhigt und rutschte, mehr als ich lief, den Hang hinunter.

Und da standen wir nun am Rande des Baikals, am „See des Lebens“, wie er im Volksmund heißt, da, wo das Wasser leise an das Ufer plätscherte.

„Hell und klar wie eine Träne“, sagte ein Fahrgast feierlich in die erschütterte, schweigende Runde.

Das Wasser war hier in der Tat kristallklar, so klar, dass man weit in die Tiefe hinabsehen konnte.

„Wissen Sie, wie tief dieser See ist?“, fragte Ewalds mich nachdenklich. „Da“, zeigte er, ohne eine Antwort abzuwarten, auf den Horizont, wo das Wasser von Smaragdgrün zu Azurblau und dann zu Tiefblau wechselte, „da ist er mehr als 1600 m tief.“

Ich starrte ihn ungläubig an.

„Stimmt aber“, lachte er spitzbübisch, bückte sich zur Wasseroberfläche, schöpfte mit beiden Händen Wasser und schwupp! – hatte ich den ganzen Segen auf dem Kopf. „Ich taufe Sie hiermit auf den Namen Baikalnixe!“, schrie er lachend, ehe ich richtig sauer werden konnte.

Wir tranken das köstliche Wasser, bespritzten uns gegenseitig, alberten herum. Aber auch die anderen waren nicht weiniger ausgelassen. Man tauchte den Kopf in den See, planschte im Wasser, füllte alle Gefäße: Tassen, Flaschen, Teekessel, ja Schirmmützen mit dem kostbaren Nass und raste, als die Lokomotive pfiff, wie ein Mann den Berg hinauf.

Kaum waren wir im Zug, fuhr er schon an.

Mama war entsetzt über mein Aussehen, doch allem Anschein nach viel mehr darüber, dass ich ihr diesmal den Gehorsam verweigert hatte. Als sie aber anfing zu schimpfen, kam mir wieder Tante Agafja zu Hilfe: „Du gönnst aber deinem Kind nicht ein bisschen Freude, was? Ich sehe das Mädchen heute zum ersten Mal lachen – ist ja immer ernsthaft, wie ’ne alte Greisin! Hier, guck’ dir unseren jungen Offizier da an!“, zeigte sie auf Ewalds, dessen Uniform ganz durchnässt war. „Hast dich wohl im Baikal taufen lassen?“

Ewalds Antwort ging im ausgelassenen Gelächter unter und es war, als hätte unsere Reise, die schon sechs Tage lang dauerte, besonders aber das Erlebnis Baikal, alle zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengeschweißt. Nur Mamas Gesicht blieb finster und verschlossen.

Und ich wusste den Grund dafür: Es war nicht so sehr mein Ungehorsam, der sie so verbittert dreinschauen ließ, sondern mehr mein Versuch, aus unserem Ghetto auszubrechen. Aus Angst, dass man mir wehtun konnte, versuchte sie mir immer wieder zu vergegenwärtigen, dass wir „nicht dazu gehören“, dass wir Fremde waren, anders, als die Menschen in diesem Land. Eigentlich hatte sie ja recht, doch ich sträubte mich gegen diese Abkapselung, ich wollte so gerne zu den Menschen hier gehören, einfach wie all die anderen sein.

 

Und ewig lebe Genosse Stalin …

 

Hinter dem Baikalsee fuhr unser Zug immer langsamer, denn er hatte nun hohe, waldreiche Gebirge zu bezwingen, die dieses 40 km lange und bis zu 80 km breite Weltwunder von allen Seiten umgeben. Wir fuhren aus einem Tunnel heraus in den anderen hinein, und es schien, als wollte das kein Ende nehmen.

„Achtung, alle mal herhören!“, sagte Wassilij, als wir wieder mal aus dem Dunkel eines Tunnels ins grelle Licht eintauchten. „Wir nähern uns dem Felsen mit dem monumentalen Stalinobelisk! So etwas gibt es nur einmal auf dieser Welt!“

Die Fahrgäste bauten sich an den Fenstern auf, während Wassilij feierlich, als spräche er ein Gebet, zu erzählen begann: „Als man diese Bahnstrecke neu verlegte, wurde beschlossen, ein Stalinbild in den höchsten Felsen entlang der Eisenbahnlinie zu meißeln. Man suchte unter den Gefangenen, die hier arbeiteten, einen Bildhauer, dem die Ehre zuteil werden sollte, dieses Meisterwerk zu vollbringen. Dafür versprach man ihm die Freiheit. Viele hatten sich gemeldet, doch nur einer schaffte es, die anderen stürzten schon auf der Strecke zum Gipfel oder während der Arbeit ab. Da!“, unterbrach sich Wassilij, dem vor Aufregung der Atem stockte. „Da ist es, seht ihr?!“

In der Ferne tauchte ein riesiger Felsen auf, der die anderen Bergspitzen um vieles überragte. Es war nichts Außergewöhnliches an ihm, nur sein Gipfel strahlte ein merkwürdig blendendes Licht aus.

Doch je näher wir an den Berg herankamen, desto überwältigender wurde der Anblick des Felsens. Er schien sich um seine Achse zu drehen und zwar so, dass er immer im Blickfeld der Reisenden blieb, die so dem gewaltigen Anblick des großen Führers Josef Stalin nicht entkommen konnten.

Man sah das von Kindesbeinen an so vertraute Antlitz des vergötterten Führers bis ins Detail: die buschigen Brauen, den imposanten Schnurrbart, die gutmütig-väterlich zusammengekniffenen Augen.

„Warum leuchtet denn das Bild so unheimlich hell?”, fragte Galina mit belegter Stimme. „Ist es aus Gold oder Silber?“

„Das glaube ich nicht.“ Wassilij war sich nicht sicher. „Vielleicht ist es extra mit etwas beschichtet worden, ansonsten kann es auch an den Sonnenstrahlen liegen …“

In der Tat: Die Strahlen der untergehenden Sonne reflektierten so intensiv, dass sich um den Kopf des sowjetischen Führers ein Nimbus bildete, der offensichtlich den Eindruck verstärken sollte, man habe in Genosse Stalin den Herrn auf Erden zu sehen, der allgegenwärtig ist.

Und siehe da, die beabsichtigte Wirkung trat auch sogleich ein. Die Fahrgäste waren zutiefst ergriffen, so mancher wischte sich unverhohlen Tränen der Rührung aus den Augen und Tante Agafja sagte leise: „Wie ein Stern, der unsereinem den richtigen Weg weist. Wie ein leibhaftiger Vater …“

Niemand widersprach ihr.

Ich sah mich nach meiner Mutter um und schreckte zusammen, als ich ihr blasses Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen sah, in denen sich so viel Hass und Widerwillen spiegelten, dass allein dies genügt hätte, um von den fanatischen Anbetern des roten Götzen in Stücke gerissen zu werden.

„Mama!“, ich versuchte sie vom Fenster wegzuzerren. „So hör’ doch, Mama! Du musst doch nicht hinsehen“, flüsterte ich, indem ich mich in Panik umsah, ob jemand meine Mutter in diesem Zustand gesehen habe. Gott sei Dank waren alle so sehr in die Anbetung ihres Abgottes vertieft, dass sie kaum wahrnehmen konnten, was um sie herum geschah.

„Mama, um Himmels Willen, lass’ dir nichts ansehen, es wird keiner hier verstehen, warum du ... Sieh mal, wie begeistert sie sind, alle, ausnahmslos alle!“

Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie eine Vision loswerden, holte tief Luft und sah mich an: „Hast schon recht, mein Kind, ich muss mich zusammenreißen“. Sie wirkte müde und ausgelaugt. „Wir scheinen tatsächlich hier die Einzigen zu sein, denen das Herz beim Anblick dieses Unmenschen nicht überquillt. Aber es fällt mir schwer, meine Gefühle zu verbergen, wenn ich so über mein Leben nachdenke, über meine Kinder, über Papa, der womöglich diese Eisenbahnstrecke mitgebaut hat und irgendwo hier in der Wildnis verscharrt liegt ... Und alles nach dem Willen dieses Sklavenhalters!“

Mir fiel wieder mal ein, dass ich so gut wie gar nichts von meinem Vater wusste, denn jedes Mal blockte meine Mutter alle Fragen zu diesem Thema ab, indem sie auf mangelnde Zeit verwies.

Nun, hier im Zug, hatten wir jede Menge davon, jetzt musste sie mir alles erzählen.

Ich überlegte, wie ich es am besten anstellen sollte, um sie aus der Reserve zu locken, als sie plötzlich laut und deutlich fragte: „Hat man den Mann auch befreit?“

Keiner wusste, wovon sie sprach, auch Wassilij schaute ganz verdattert drein.

„Sie meint den Bildhauer, der das Bild gemeißelt hat”, half ich ihm auf die Sprünge und versuchte, meiner Stimme einen belanglosen Klang zu verleihen.

„Ach der ... So genau weiß ich es nicht, aber man erzählt sich, er habe trotzdem seine Strafe abbrummen müssen“, meinte Wassilij leichthin.

Die anderen nahmen es auch nicht tragisch: „Die da oben wissen schon, was sie machen mit den Feinden der Sowjetmacht.“

Das war eigentlich damals der allgemeine Tenor der Stimmung im Land.

„Ich erzähl’ dir von Papa“, flüsterte Mama mir zu, als hätte sie gerade einen schwerwiegenden Entschluss gefasst. „Heute Abend, wenn sie sich alle schlafen gelegt haben, gehen wir in den Vorraum, wo wir allein sein können. Und nun lass’ uns beten“, faltete sie die Hände.

Davor fürchtete ich mich am meisten, denn jedes Mal, wenn wir vor dem Essen oder Schlafengehen beteten, zogen wir die Aufmerksamkeit der Fahrgäste in unserem Abteil auf uns, schon dadurch, dass wir dabei die Hände falteten und uns nicht, wie bei den Orthodoxen üblich, bekreuzigten. Ganz zu schweigen davon, dass ganz Russland atheistisch zu sein schien und der Glaube von den meisten als Humbug abgetan wurde.

Kein Wunder, dass ich immer wieder versuchte, mich vor dieser Prozedur zu drücken, aber Mama blieb in diesem Punkt eisern – wie übrigens auch in vielem anderen. Doch diesmal lief für mich alles glimpflich ab. Unsere Mitreisenden waren so sehr in die Huldigung ihres Abgottes an der Felswand vertieft, dass sie unser „mittelalterliches Ritual“ gar nicht beachteten. Mein ungestörtes Beten klang daher auch viel ehrlicher als sonst.

„… Wir waren eine ganz gewöhnliche, aber sehr glückliche Familie, musst du wissen, mein Kind“, begann meine Mutter, als wir uns spät abends in den Vorraum von den Augen und Ohren der anderen absetzten. „Eine sehr, sehr glückliche Familie …“, wiederholte sie und verstummte.

Ich war gerade mit meinen Zöpfen beschäftigt und reagierte nicht sofort auf die plötzliche Stille. Als ich dann verwundert über ihr Schweigen den Blick hob, verschlug es mir die Sprache: meine stets traurige, strenge und vorzeitig gealterte Mama hatte sich total verwandelt. Noch nie zuvor hatte ich diesen glückseligen Ausdruck in ihren großen graugrünen Augen gesehen wie jetzt, als sie mir – kaum zu glauben! – mit fröhlicher, liebevoller Ironie von ihrem Oskar erzählte.

Dass er, trotz seiner Gutmütigkeit und Abneigung gegen jegliche Strafen, ein guter Lehrer war. Dass er seine eigenen Kinder verzog und alle Erziehungsprobleme ihr, der „Mama“, wie er sie zu nennen pflegte, überließ, wie auch alle anderen Fragen und Probleme des Alltags; denn davon hatte er wenig Ahnung. Dafür umso mehr von der Schule, vom Unterricht, denn er kam, so betonte Mama mit Stolz, aus einer Lehrerfamilie, in welcher der männliche Teil seit Generationen diesen Beruf ausübte.

Sie erzählte mit einem verschmitzten Lächeln, dass sie gegen den Willen ihres Vaters, einem wohlhabenden Bauern, den armen Schlucker, welcher der Lehrer Wagner gewesen war, geheiratet hatte – sie war einfach mit Papa durchgebrannt!

Das gab mir den Rest: So etwas sollte meine brave Mama getan haben?

Sie habe es auch nie bereut, erzählte Mama weiter. „Bei uns in der Familie hatte jeder sein Aufgabengebiet, und ich ließ Oskar seine Wege gehen, ließ ihn das tun, was er konnte und wollte. Es war bei Gott nicht wenig. Er war mit Herz und Seele Lehrer, schrieb für einige deutsche Zeitungen, hielt ab und zu Predigten in der Dorfkirche, musizierte mit den Kindern – und für den Haushalt war eben ich zuständig. Das war keine leichte Aufgabe, zumal Papa oft versetzt wurde und wir wie Zigeuner von einem Ort zum anderen ziehen mussten. Aber wenn man, wie ich, auf einem Bauernhof groß geworden wist, dann kommt man nicht so leicht von der heimischen Scholle weg, dann fühlt man sich erst in ihr verwurzelt, wenn man ein „Häusle” gebaut hat – es war eben so Sitte bei uns Deutschen, und das versprach mir mein Oskar immer wieder. Doch die Zeiten waren ungewiss und sehr unruhig. Sehr, sehr unruhig …“

Mama verstummte und prompt erlosch auch das Strahlen in ihren Augen. Sie sprach jetzt von den ersten Schicksalsschlägen, und da kam wieder der ängstliche und gehetzte Ausdruck in ihre Augen zurück, der sich seit der zwangsweisen „Rückkehr in die Heimat“ nach dem Krieg darin eingenistet und alle anderen Regungen rücksichtslos ausgelöscht zu haben schien.

Sie sprach zögernd, vorsichtig, schien jedes Wort abzuwägen. Am Ende wusste ich fast genau so wenig von diesem Abschnitt im Leben meines Vaters wie vor unserem Gespräch. Mich ärgerte das, doch weder bohrende Fragen noch flehende Bitten konnten etwas ändern: meine Mutter blieb wortkarg und speiste mich auch weiterhin mit – wie mir schien – belanglosen Einzelheiten ab, wo ich doch einfach wissen wollte, warum mein Vater verhaftet und wohin er gebracht worden sei und wo er jetzt sein könne.

Woher sollte ich auch wissen, dass meine Mutter, wie alle Deutschen in der UdSSR damals, Angst hatte, mir, einem Kind, das schreckliche Geheimnis dieser Verhaftung und der Aburteilung anzuvertrauen. Ich hätte mich ja irgendwo verplappern und so ein neues Unheil über den kläglichen Rest unserer Familie – sie und mich – heraufbeschwören können.

Zwei Generationen der Russlanddeutschen hielten sich eisern an dieses Schweigen, denn man wollte sich und seine Kinder nicht gefährden. Und so kam es, dass viele sehr wenig oder nichts über das wahre Schicksal ihrer Eltern und Großeltern erfuhren, aber auch heute noch nicht viel darüber wissen. Und die Tatsache, dass die Deutschen in der UdSSR Jahrzehnte lang nach Kriegsende totgeschwiegen wurden, tat ein Übriges dazu.

Die ganze Wahrheit über das Schicksal meines Vaters erfuhr ich viel später …

 

Als das unschuldige Russland in Schmerzen sich wand …

 

… Ich wurde in dem für die Völker der UdSSR schicksalsträchtigen Jahr 1937 geboren, das als einer der Höhepunkte des stalinistischen Terrors, nämlich der Massenverhaftungen und Hinrichtungen in Russland, gilt. Es war jene Zeit, als „… nur noch ein Toter, der Ruhe froh, noch lächelte ...“, wie die wortgewaltige russische Dichterin Anna Achmatowa damals schrieb, eine Zeit, als sich das Leben der Menschen nur noch in Gefängnissen oder um diese herum abzuspielen schien:

 

„... Die Verurteilten zogen in langen

Kolonnen in Reih und Glied,

Und die Lokomotiven nur sangen

Ihr trauriges Abschiedslied.

In den Sternen stand Tod und Verderben,

Und das unschuldige Russland sich wand

Unter blutigen Stiefeln am Boden,

Unter Autos, ‚Marussja’ genannt ...“

 

In dieser Zeit der Denunziationen, Verdächtigungen und des Terrors waren die Russlanddeutschen den Schergen Stalins allein schon wegen ihrer Herkunft verdächtig. In den Jahren der so genannten „Jeshowschtschina” wurde nahezu die ganze gebildete Schicht der Deutschen (Intelligenzija): Lehrer, Pfarrer, Vertreter der schreibenden Zunft, Ärzte etc. ausradiert. Aber nicht nur sie; es gab damals kaum eine Familie im Land, die von diesem Schicksal verschont blieb.

So wurde der männliche Teil meiner Verwandtschaft (und die war, für Russlanddeutsche typisch, sehr groß), bis auf meinen Großvater und einen Onkel, ausgerottet.

Meine Mutter blieb nach der Verhaftung ihres Mannes mit drei Kindern allein zurück, und sie ist nur eine der Millionen Frauen in der Sowjetunion, denen das gleiche widerfahren ist. In allen Winkeln des blutenden Sowjetlandes erhob sich das millionenfaches Stöhnen und Klagen der Frauen und Mütter; auch der eben zitierten bekannten Dichterin wurde der einzige Sohn weggenommen:

„... Hügel müssen fallen, Berge weichen,

Flüsse stauen sich vor diesem Leid,

Doch von keinem Mitleid zu erreichen

Sind die Stätten, wo Gefangne bleichen

In des Todes Hoffnungslosigkeit ...“

Mein Vater verschwand für immer in den Verliesen des Odessaer Gefängnisses und nahm die Erlebnisse seiner letzten Stunden mit ins Grab. Niemand hatte ihn nach der Verhaftung mehr gesehen, nicht einmal einer seiner Mithäftlinge. Er war einfach abgeholt worden und nicht mehr in seine Zelle zurückgekehrt.

Irgendwann später erhielt meine Mutter die Nachricht, er wäre als „feindlicher Spion“ zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, „ohne Recht auf Briefwechsel”.

Wie genau die Anklage lautete, was der Grund für seine Verhaftung wirklich war, weiß man in unserer Familie bis heute nicht.

Es könnte, zum Beispiel, an seinem Beruf gelegen haben. Literatur- und Geschichtsunterricht zu erteilen, war in jenen Jahren eine lebensgefährliche Betätigung. Außerdem predigte er manchen Sonntag in der Kirche und schrieb gelegentlich Beiträge für Zeitungen der deutschen Kolonisten. Vielleicht wurde ihm auch zum Verhängnis, dass er als junger Bub im Ersten Weltkrieg für die deutschen Soldaten gedolmetscht hatte.

Aber es war letzten Endes wohl eher die Tatsache, dass mein Vater Ende der zwanziger Jahre – als Sowjetrussland für kurze Zeit seine Grenzen öffnete und viele Deutsche, darunter auch ein großer Teil unserer Verwandtschaft, nach Amerika und Kanada auswanderte – darauf bestand, nach Deutschland umzusiedeln. Zweimal sprach er eigens zu diesem Zweck beim deutschen Konsul in Odessa vor, ohne Erfolg. Deutschland hatte seine Grenzen dichtgemacht und ließ keine Einwanderer mehr ins Land.

Dass der Besuch beim deutschen Konsul ein großes Risiko barg, wusste mein Vater nur zu gut.

Wer weiß …

In den Jahren der Perestroika öffnete der KGB (das Komitee für Staatssicherheit), der Rechtsnachfolger von Stalins NKWD, der verantwortlich ist für die Massenvernichtungen von Millionen eigener Bürger, mancherorts seine Archive, und so stieß ich vor einigen Jahren in einer sowjetischen Zeitung auf eine Liste der in Odessa von 1932 bis 1938 erschossenen Russlanddeutschen. Unter einer der Nummern dieser Liste wird auch der Name meines Vaters geführt, der am 23. Februar, knapp zwei Monate nach seiner Verhaftung, erschossen wurde.

Insgesamt sind in dieser – übrigens unvollständigen – Liste, wie die Redaktion der Moskauer Zeitung „Neues Leben” vermerkte, über viertausend Namen von Deutschen angegeben, die damals erschossen wurden. Und das allein in Odessa! Nicht einmal an einem ihrer Feiertage (der 23. Februar war der Tag der Roten Armee) haben sich die Henker Ruhe gegönnt!

Ich frage mich oft, wie es eigentlich um das Gewissen der Täter bestellt ist, derer, die schutzlose Menschen folterten, ihnen die Hände zwischen den Türen zerquetschten und die Genitalien mit Stiefeln zertraten, Nadeln unter die Fingernägel jagten, Gefangene bis an den Hals in den Boden gruben, um sie dann mit dem Mähdrescher zu überfahren?

Waren sie Barbaren? Oder war eine Zeit der seelischen und moralischen Verrohung schuld an allem?

Irgendwo lebten und leben sie heute noch als respektable Bürger und gute Familienväter, beziehen ihre Renten oder genießen, wie man in Russland sagt, „den verdienten Ruhestand“.

 

Wunder gibt es doch!

 

Dieses Rauschen … Es ist kein Wind, sondern ein ganz neues und unbekanntes Geräusch, das von überall herkommt, von allen Seiten, aus allen Richtungen, in regelmäßigen, rhythmischen Abständen, anschwellend und dann wieder abklingend. Schlaftrunken richte ich mich auf und versuche, mich zurechtzufinden, vergeblich. Es ist düster im Raum, kaum etwas zu erkennen.

Dann die Erleuchtung, die Erinnerung daran, dass wir gestern Nacht in Nachodka, einem sowjetischen Hafen am Japanischen Meer, eingetroffen sind, von wo aus unsere Reise per Schiff nun weitergehen soll. Jetzt fällt es mir auch nicht mehr schwer, das ungewöhnliche Geräusch einzuordnen – so kann nur das Meer rauschen!

 

Erst am Vortag hatten wir uns von unseren Reisegefährten in Chabarowsk, der weißen Stadt am Amur, getrennt. Zum Abschied bekreuzigte Tante Agafja uns und sagte zu meiner Mutter: „Vertrau’ auf Gottes Gnade und die Menschen, Maria, und sei nicht so hart zu dir selbst; das Leben ist schon hart genug.“

Dann standen wir wieder mutterseelenallein auf dem Bahnsteig und winkten dem abfahrenden Zug nach, der die Menschen von uns davontrug, die uns in den Tagen und Nächten der gemeinsamen Reise ans Herz gewachsen waren.

„Es ist schwer von Menschen Abschied zu nehmen, die man lieb gewonnen hat“, meinte Mama voller Wehmut, „aber das Leben ist eben ein ständiges Abschiednehmen – von Menschen, Orten, Dingen, Gewohnheiten ...“

Ich kann kaum den Tagesanbruch erwarten, um zu erkunden, wo wir jetzt sind – und bin bitter enttäuscht: enttäuscht von der trostlosen Umgebung eines mit Stacheldraht eingezäunten Lagers, von den niedrigen Holzbaracken, vor denen provisorische Feuerstellen eingerichtet sind, enttäuscht von den grauen Menschengestalten, die wie Geister ziellos um die Baracken schleichen, enttäuscht von unserer neuen Behausung, deren Einrichtung, wenn man das überhaupt so nennen kann, die alles an Einfachheit und Schlichtheit übertrifft, was ich bisher gesehen habe. Links und rechts eines Ganges durch die Baracke stehen zweistöckige, mit Stroh bedeckte Holzpritschen. Kein Fußboden, keine Trennwände, kein Glas in den kleinen Luken, die die Fenster ersetzen, keine Heizung, keine Türen – die zwei Eingänge sind einfach mit alten Decken verhängt.

Auf den Strohlagern schlafen, sitzen, essen Menschen, die hier wochen-, oft monatelang auf ihr Schiff warten, das sie nach Magadan bringen soll.

Auf den ersten Blick wird mir klar, dass hier nur Insassen der Waggons dritter Klasse gelandet sind. Gott sei Dank sind wir wieder unter unseresgleichen.

Doch meine Enttäuschung vom Meer stellt das alles in den Schatten. Fassungslos starre ich auf die grauen Wassermassen, die am Horizont mit einem ebenso trostlos grauen Himmel verschmelzen, und kann nicht glauben, dass vor mir tatsächlich ein Meer liegt.

Bleigrau, kalt, grollend und doch irgendwie gleichgültig und unnahbar, umgeben von kahlen, nur an manchen Stellen mit niedrigen Sträuchern und Zwergtannen bewachsenen Hügeln, hat dieses Meer nichts gemein mit dem Bild aus meinen Träumen, der romantischen, azurblauen See im hellen Sonnenschein, mit weißen Sandstränden, Palmen und exotischer Pflanzen- und Tierwelt.

Doch auch diese Enttäuschung verblasste in den darauffolgenden Tagen neben anderen Sorgen, von denen wir immer genug hatten. Auch jetzt waren wir in einer Sackgasse, denn trotz der vielen Telegramme an unseren Eddie fanden wir weder in Chabarowsk noch in Nachodka eine Geldüberweisung vor, die uns die Weiterreise ermöglicht hätte.

Wir konnten nicht wissen, dass Eddie mit seiner Familie gerade zu dieser Zeit weiter ins Innere des Magadaner Gebiets deportiert worden war und unsere Telegramme erst gar nicht bekommen konnte.

Und auch er war nicht imstande, unseren Aufenthaltsort ausfindig zu machen – die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen …

Also waren wir wieder mal am Ende unserer Weisheit, denn jetzt war auch Mamas eiserne Reserve verbraucht (diesbezüglich ein gebranntes Kind, legte sie sich eine solche ihr Leben lang an, auch in Zeiten, als es uns noch wesentlich besser ging).

So fing wieder das große Hungern an, nur mit dem Unterschied, dass wir in unserem ersten Verbannungsort, dem kleinen Dorf Gorki, mit Hilfe rechnen konnten, während es hier niemanden gab, der uns beistehen konnte oder wollte – am wenigsten der Milizmann, dem es jetzt, wo unser Geld aufgebraucht war, auch nicht bestens ging. Er verlangte seinen „Lohn“, tobte und schrie, konnte aber nichts bei der „Wolfsmutter“ ausrichten.

„Ihr Deutschen seid schlimmer als reißende Tiere. Ihr könnt ja gar keine menschlichen Gefühle haben, schon gar nicht Mutter- oder Sohnesliebe empfinden! Woher auch!? Ihr habt keine Ahnung davon, was die Pflicht eines Sohnes ist, wie er seine Mutter verehren und achten muss! Deshalb, nur deshalb lässt dein Wolfsöhnchen dich hier krepieren! Nie würde ein Russe so was tun!”

Die Hoffnung auf ein Wunder schwand mit jedem Tag. Der Rest unseres Geldes reichte für drei Kilo Bohnen, die hier viel preiswerter waren als Kartoffeln, die Hauptnahrung der Ärmsten der Armen in Russland.

Die Bohnen wurden in sieben Portionen eingeteilt, eine Portion pro Tag, so dass wir eine Woche versorgt waren, wenn das auch mehr als bescheiden war. Und danach? Weder Mama noch ich verspürten Lust, daran zu denken.

Mama meinte, wir sollten unsere Kräfte schonen, möglichst viel schlafen, und wiederholte immer wieder Tante Agafjas Worte: „Vertrau’ auf Gottes Gnade.“ Und ER ließ Gnade walten …

Jeden Nachmittag verließ Mama die Pritsche für eine bis zwei Stunden und ging zum Postamt, um nachzusehen, ob die lang ersehnte Geldüberweisung vielleicht eingetroffen war. So auch an dem warmen, sonnigen Tag, als sie sich, völlig entkräftet, den schmalen Pfad hinunterschleppte, der sich vom steilen Hang ins Tal zum Stadtkern schlängelte. Vor dem Postamt verweilte sie einen Augenblick, um die Enttäuschung hinauszuzögern, denn eine innere Stimme sagte ihr, dass sie auch heute leer ausgehen würde.

In der Tat, noch ehe sie etwas sagen konnte, zuckte die Postbeamte bedauernd ihre Schultern und wiegte verneinend den Kopf: „Nichts ... Wieder nichts!“

Unschlüssig blieb Mama draußen stehen, überlegte fieberhaft. „Wohin nur? Zurück ins Lager?“ Aber was erwartete sie da, außer den hungrigen Augen ihres Kindes, dem sie heute nichts mehr zu essen vorsetzen konnte, keine Krume. Davor graute ihr am meisten. Nein, nur das nicht! Aber gab es denn einen Ausweg? Gewiss, wäre da nicht das Kind …

Ihr Blick fiel auf das Meer, das an diesem Tag ganz anders war als sonst: keine meterhohen Wellen, die sich mit Getöse am Kai zerschlugen, kein rauer, stürmischer Wind, der Staub und Sand durch die Luft wirbelte.

Jetzt lag es, wie ein gezähmtes wildes Tier, blau und ruhig, zu ihren Füssen, und seine Wellen plätscherten liebkosend gegen das Ufer. In der sonnendurchfluteten Luft glitzerte die See, als wären auf ihrem Grund Tausende von kostbaren Edelsteinen verstreut, deren Lichtspiel nun über dem Wasserspiegel tanzte, einen mit einbezog - in die Tiefe lockte, Ruhe versprach; und sie war müde, so müde von all den Sorgen, Ängsten und Qualen …

Wie schön wäre es doch, endlich mal Ruhe zu finden, in diese Tiefe hinab zu steigen, sich dem Willen der Wellen anzuvertrauen, nichts mehr von dieser Welt zu sehen, zu hören, zu fühlen, einfach nicht mehr da zu sein! Ein paar Minuten nur, und alles wäre vorbei: Leid, Hunger, Schmerz, Sehnsüchte …

Wie von einem Magneten angezogen, machte sie einige Schritte auf das Ufer zu, lächelte gelöst, erstarrte aber plötzlich: „Mein Kind!“

„… Wenn wir uns weiter auf deinen Orientierungssinn verlassen sollen, finden wir nie zurück! Lass’ uns die Frau da nach dem Weg fragen!“ Mit diesen Worten nähert sich meiner Mutter eine Gruppe von Männern, einer von ihnen spricht sie an, bemüht, seine Frage in einem passablen Russisch zu formulieren. Sie schweigt, starrt die Männer fassungslos an, bringt kein Wort über die Lippen. Die Gruppe ist enttäuscht, denn die Frau ist offensichtlich keine große Hilfe.

Dann stellt sie doch stockend die Frage: „Haben Sie da eben nicht deutsch gesprochen?“ Ihr unsicherer Blick bittet, fleht.

Jetzt finden die Männer keine Worte, sehen einander fragend an. Die Frau hat doch gerade deutsch gesprochen, oder? Aber wie in aller Welt kommt eine deutsche Frau hierher?

Sie steht noch immer wortlos da, rührt sich nicht, will es glauben, kann es aber doch nicht fassen, hat Angst, es könne ein Missverständnis, eine Sinnestäuschung sein.

Ist es aber nicht. Die Männer sind deutsche Kriegsgefangene, die aus einem Lager von der Kolyma kommen und auf dem Weg in die Heimat einen Zwischenaufenthalt in Nachodka einlegen.

Nein, unseren Eddie haben sie nicht getroffen, aber sie wollen helfen.

Mama bricht zusammen. Ein Weinkrampf erschüttert ihren ausgemergelten Körper, das aufgestaute Leid scheint ausgebrochen zu sein.

Sie erzählt und erzählt, spricht sich ihre Not, ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit von der Seele.

Bedrückt hören die Männer ihr zu. Gerne wollen sie die Frau beschützen, ihr die Last abnehmen, zumindest einen Teil. Sie sind beschämt, weil sie diese Uraufgabe eines Mannes nicht erfüllen können, nicht imstande sind, sie zu erfüllen. Sie können keiner Frau Schutz bieten, denn sie sind selber zu Gegenständen, zu Nummern geworden.

Aber sie können doch helfen, denn sie haben etwas Geld. Geld, das sie selber wahrscheinlich nie werden ausgeben können. Wenn es tatsächlich, wie man ihnen versprochen hat, in die Heimat geht, brauchen sie es sowieso nicht. Oder soll es nur eine Masche sein, um sie zu beruhigen? Wenn sie in ein anderes Lager gebracht werden, brauchen sie es da genau so wenig.

Fortsetzung folgt

 

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