Als ich klein war (31.07.2020)

 

Rose Steinmark

 

Als ich klein war, war ich ziemlich verträumt. Ich hätte stundenlang auf der mit Gänseblümchen übersäten Wiese hinter unserer kleinen Lehmhütte liegen, und ziellos den tiefblauen Himmel anstarren können. Meist waren meine Träume undefinierbar, ich konnte sie nicht irgendwie zuordnen oder mit Worten beschreiben. Vor meinen Augen entstanden sagenhafte Szenen, ferne Länder und verschwommene Gesichter – ein buntes Durcheinander, ein Summarium dessen, was ich in meinen Kinderbüchern gelesen und gesehen hatte. In solchen Momenten verlor ich komplett das Zeitgefühl. Irgendwann, wenn mein Traum eine besonders spannende Richtung einschlug, erklang die strenge, stets gereizte Stimme meiner Mutter und verscheuchte ihn. Er verzog und verzettelte sich wie die wolkigen märchenhaften Gestalten dort oben – ich wurde in die Realität zurückgerufen, in eine Welt, wo es keine Zeit für „uff dr faule Haut liegen“ gab. Früh wurde auch mein Leben von Aufgaben und Pflichten bestimmt...

In meinem Gedächtnis verbergen sich aber auch wunderschöne, unvergessliche Passagen, die den Erzählungen im Buch „Kindheiten in Deutschland und Russland“ sehr ähnlich sind. Zwei Autorinnen, Monika J. Mannel und Agnes Gossen, die sich bereits seit vielen Jahren kennen und sich gemeinsam in verschiedenen Organisationen engagieren, schrieben ein Buch, in dem die Erinnerungen aus der Kindheit den Grundstock des Sujets bilden, im Gedächtnis des Lesers Assoziationen aus seiner Vergangenheit wach rütteln, am Faden seiner Erinnerung zerren und längst vergessene Gefühle in die Gegenwart zurückholen.

Wissenschaftlich wurde belegt, dass unsere ersten Gedächtnisspuren mit rund drei Jahren beginnen, sehr emotional, bewegend, rührend und überempfindlich sind. Obwohl die Kindheitstagen der beiden kleinen Mädchen Monika und Agnes in verschiedenen Welten abliefen, passierte in ihrem Leben so Manches, das sie einander sehr nah bringt. Es sind gezeichnete Bruchteile ihrer ersten Erlebnisse, die ihr Gedächtnis behutsam bis in das Heute bewahrt hat. Sie stammen aus den Zeiten ihrer frühsten Kindheit, wo sie sich geborgen und wunschlos glücklich fühlten und die Welt noch heil und in Ordnung war. So schien es ihnen jedenfalls, in Wirklichkeit jedoch geschah alles in den Nachkriegsjahren, in Sommern und Wintern, wo Not, Armut, Ungerechtigkeit und Geldmangel herrschten... Aber für die Mädchen drehte sich alles um ihre Nächsten, um ihre Familien. Beide vergötterten ihre Väter, die ihre wenigen freien Minuten den Kindern widmeten und ihnen die ersten Streiche beibrachten. Bei Agnes ist es das Fingerspiel, das sie heute noch an den klangvollen Hauch ihrer plattdeutschen Muttersprache, die in der Familie gesprochen wurde, zurückerinnert:

„...Jret kocke, ollen jewe und dem latzen, den fühlen Finja, aufrriete, wajchschmiete...“

Monikas Vater konnte „so richtig mit seinen Kindern spielen“. Er spielte ihnen „oft Kasperletheater vor, brachte ihnen akrobatische Übungen bei“ und begeisterte sie damit...

Zwei Welten, zwei Buchhälften, in denen die Autorinnen Agnes Gossen und Monika J. Mannel jede in 17 Kapiteln ihre ersten Erkenntnisse, ihre eigene fröhliche sowie traurige Erfahrungen zur Schau tragen. Verfasst in der Ich-Form klingen die Geschichten äußerst persönlich, heimisch und vertraulich, aber keineswegs intim: die Autorinnen haben nichts zu verbergen, im Gegenteil – sie freuen sich, ihre Erinnerungsscherben öffentlich zu machen und sie mit jedem zu teilen. Dem Leser wird der Einblick in zwei verschiedenen Welten, die tausende Meilen voneinander entfernt sind und sich trotzdem greifbar nah anfühlen, gewährt. Welten, in denen tagtäglich dasselbe geschieht – es wird gekocht, gebacken, gemolken, die Sonne geht auf und unter. Welten, in denen die Kinder kuhwarme Milch genießen und ihren süßlichen Duft einatmen, die ersten, noch unreifen und ganz sauren Früchten in den Obstgärten ihrer Großmüttern kosten, auf die Ziegen, die sich gerne im Gemüsebeet verwöhnen möchten, aufpassen. Es war warm, die Sonne schien, die Kinderstreiche nahmen kein Ende und die Eltern waren immer für einen da.

Später kam die Zeit der Einschulung, Agnes und Monika malten noch ganz wage ihre ersten Buchstaben auf kleinen Tafeln, Monika in Deutschland und Agnes in Russland:

„Meine erste Tafel war etwa so groß wie ein DIN A-Blatt. Die Schreibfläche war aus Schiefer und mit hellem Holz eingerahmt...“ (Monika)

„Ich schrieb mit Farbkreide auf eine kleine grüne Tafel, die Omas Schwestern uns aus Kanada zugeschickt hatten...“ (Agnes)

An eisigen Wintertagen gab es wenig draußen zu tun, da saßen die Mädchen ganz brav zu Hause und schauten sich fantastische Bilder an den zugefrorenen Scheiben an. Den verschneiten Obstgarten beobachteten sie durch die Löcher, die sie in die bereiften Fenster hauchten. Anmutende und ein wenig sentimentale Erinnerungen aus einer Kindheit, die trotz allem ungetrübt und gesegnet war:

„... Die Doppelfenster... waren vom Frost mit weißen Blumen, Farn und wundersamen exotischen Bäumen geschmückt... wir malten diese Fantasiebilder des Winters nach oder hauchten ein Loch ins bereifte Fenster und schauten uns die verschneiten Apfelbäume im Vorgarten an...“ ( Agnes)

„...Der Mond schien und da sah ich es, Eisblumen. Eisblumen am Fenster... Vorsichtig hauchte ich ein Loch in die Eisblumen und schaute hinaus. Der Schnee im Garten glitzerte und funkelte...“ (Monika)

Die Gedanken eines Kindes, seine Fantasien und Träume sind frei. Sie entwickeln sich unabhängig von der Umgebung, sind zeitlos und kennen keine Grenzen. Sie sind die treibende Kraft der jungen Seele, die sich stets auf der Suche befindet und die Welt erforscht. Bei ihrer Suche schwebt sie über Wälder und Meeren, streift den glühenden Wüstensand und haucht kleine Löcher in die frostigen Eisblumen an den Fenstern, um in die Zukunft zu schauen, in eine Zukunft, die es ohne Vergangenheit nicht geben kann...

Es war eine gute Idee der Lyrikerinnen Monika J. Mannel und Agnes Gossen, die Erinnerungen aus ihren Kindheiten in solch einer lyrischen Form festzuhalten! Es ist ihnen damit gelungen, auch den Leser dazu zu bewegen und ihn einzuladen, sich eines Tages auf seine eigene Reise in die Vergangenheit zu machen.

Das vor kurzem im Geest-Verlag herausgegebene Buch „Kindheiten in Deutschland und Russland“ ist zweifellos eine gelungene Symbiose zwischen Gestern und Heute und zugleich ein erfolgreiches literarisches Experiment, das den Autorinnen aus Bonn vermutlich viel Freude bereitete und auch den Leser begeistern wird, denn es ist eine spannende Lektüre mit tiefsinnigen Schlussfolgerungen: Es ist so einfach, Welten zusammenzubringen, einander zuzuhören um einander besser zu verstehen...

 

 

 

 

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