Соня Янке и Сабина Рос
Nun leben wir schon seit einiger Zeit in Bayern, wo meine Schwiegereltern schon vor uns ein neues Zuhause gefunden hatten. Und heute beginnt also mein erster Praktikumstag im Altenheim. „Guten Tag! Ich bin Schwester Rosi.“ Eine etwas ältere Frau reicht mir zur Begrüßung die Hand. „Ich werde Ihnen alles zeigen, was sie machen müssen.“ Die Schwester erledigt ihre tägliche Arbeit, und ich gucke zu und mache mit. Schon bald spüre ich, dass die Leute mir gegenüber etwas misstrauisch sind. Haben sie etwa Angst vor mir? Einige Tage später entdecke ich die Bewohner unserer Abteilung im Freizeitzimmer und will mich ihnen anschließen. Da wird es plötzlich ganz still um mich herum. Warum redet niemand mit mir? Mit dem Mut der Verzweiflung sage ich laut: „Liebe Leute, ich habe den Auftrag von Moskau bekommen, dieses Haus zu räumen!“ Im Saal wird es unruhig und schnell füge ich hinzu: „Aber keine Panik, ich bringe nicht jeden um. Und außerdem gefallen Sie mir alle sehr.“ Jetzt bin ich selbst erschrocken – wenn das nicht funktioniert, was mache ich dann? Da endlich – ein erlösendes Lachen. Erleichtert stimmen alle mit ein und wir kommen ins Gespräch. Die Bewohner gestehen, dass sie sich in meiner Nähe unsicher gefühlt haben. Wer weiß, was im Kopf eines Menschen aus dem Osten so vorgeht? Wir unterhalten uns über den Krieg, über Kinder und noch viele interessante Dinge. Sie wollen wissen, ob es in Russland auch solche Einrichtungen für alte Leute gibt? „Ja, natürlich, aber dort ist es viel schlechter, als Sie es hier haben. Meine Schwiegereltern hatten große Angst vor solchen Heimen. Gott sei Dank haben sie so viele Kinder und sogar Enkel, dass ein Altersheim nie in Frage gekommen wäre.“ Mein Arbeitstag ist schon zu Ende. Erleichtert und glücklich gehe ich nach Hause.
Zuhause angekommen, entdecke ich im Flur einen merkwürdigen Gegenstand. „Das ist eine Markise für den Balkon.“, ruft meine Schwiegermutter aus der Küche heraus, „Frau Maier aus dem 3. Stock hat sie uns geschenkt.“ Als ich dazu etwas sagen will, unterbricht mich unsere Tochter Jana: „Mama, weißt du nicht, wo man eine Kuh kaufen kann?“ „Wofür brauchst du denn eine Kuh?“, lache ich sie an. „Ich doch nicht!“, sagt Jana ungeduldig. „Opa will auf dem Balkon eine Kuh halten. Glaubst du, Papa erlaubt das?“ Eine Kuh auf dem Balkon - ein lustiges Bild! Aber mir ist jedes Lachen vergangen. Ich gehe hinaus, damit niemand meine Tränen sieht. Meine armen Schwiegereltern! Sie sind auf dem Land geboren und haben dort ihr ganzes Leben verbracht. Sie haben hart geschuftet und dabei viele Kinder großgezogen. Jetzt sind sie ohne eigenes Haus, ohne Kühe und Hasen, Katzen und Hunde. Sie verbringen sorglose Tage, und das fällt ihnen schwer. So haben Sie sich das Leben in der neuen Heimat nicht vorgestellt. „Du bist ja hier!“, holt mich die Stimme meiner Schwiegermutter aus den Gedanken. „Was hältst du davon, wenn ich Frau Maier ein paar Socken stricke? Und einen Kuchen backe ich auch noch dazu“, sagt sie und macht sich gleich ans Werk.
„Wann kommt denn Papa endlich von der Arbeit?“ Jana will ihm so schnell wie möglich von ihren guten Noten berichten. Sie hat mir schon erzählt, dass die Schule hier viel leichter ist. In der 5. Klasse machen sie jetzt das, was sie in Russland schon längst gelernt hat. Und die deutsche Sprache ist überhaupt nicht schwierig. Und… und… und… Die Kleine kann aber reden!
Am Abend versammeln wir uns alle im Wohnzimmer. Etwas später kommt die Familie meines Schwagers dazu. Die Kinder freuen sich, sie wieder zu treffen. „Jana, da ist jemand an der Türe!“, ruft mein Mann laut. Ich gehe lieber selber hin. Da steht unsere Nachbarin aus dem Erdgeschoss. „Sie sind sehr laut und wenn das so weitergeht, dann rufe ich die Polizei!“ Erschrocken gehe ich zurück ins Wohnzimmer. Unsere Gäste wollen lieber gleich gehen, damit wir keinen Ärger bekommen. „Was haben wir denn verbrochen?“, ärgert sich mein Mann. „Die Kinder haben gespielt und gelacht. Wir haben uns ganz friedlich unterhalten.“ „Die Frau hat keine Familie. Wahrscheinlich ist der Kinderlärm tödlich für sie.“, meint sein Vater. Den Rest des Abends verbringen wir ganz leise, so als ob wir nicht existieren würden.
Ich beginne zu zweifeln: War es richtig nach Deutschland zu kommen? Wir hätten nicht gedacht, dass die Umstellung so schwierig ist. In vielen Familien gibt es Streit und richtige Tragödien. Für mich ist es zum Beispiel sehr schwierig, eine meinen Fähigkeiten entsprechende Arbeit zu finden. Nur ungern erinnere mich an das Gespräch mit dem Arbeitsberater, bei dem ich eine Umschulung beantragte, weil ich nicht zuhause sitzen und Arbeitslosengeld kassieren wollte. „Sie kommen in den Westen und wollen die Sterne vom Himmel reißen.“, sagte der Berater. „Das stimmt nicht!“, entgegnete ich. „Ich habe 5 Jahre studiert und möchte mich mit meinen Kenntnissen hier nützlich machen! Aber ich finde einfach keine Arbeit.“ „Dann hätten Sie in Russland bleiben sollen! Sie müssen die Sprache besser beherrschen, solange können Sie putzen gehen. Ihr Diplom können Sie sich sonst wohin stecken.“ Ich war außer mir. „Soll ich etwa mit dem Putzlappen Deutsch lernen?“ Vor lauter Wut beschimpfte ich ihn zu meiner eigenen Überraschung in fließendem Deutsch, bis er mir schließlich diese Praktikumsstelle im Altenheim anbot.
Nach der Erfahrung von gestern gehe ich diesmal ganz zuversichtlich zur Arbeit. „Schwester, geht es, dass Sie mich heute zu Bett bringen? Ich wohne schon seit drei Jahren hier, aber Sie sind die Einzige, die es geschafft hat, mich zum Lachen zu bringen.“ Als ich bei der alten Dame fertig bin, ist Besprechung im Stationszimmer. Wieder spüre ich die Verachtung der Mitarbeiter. Die Stationsschwester schaut mich ernst an. „Ich verlange von meinem Personal mehr Herzlichkeit im Umgang mit den Heimbewohnern. Das gilt besonders für dich!“ Ich verschlucke mich am Kaffee. „Was meinst du damit?“, möchte ich wissen. Sie antwortet nicht. „Warum verachtest du mich?“ Die Stille wird unerträglich. Schließlich antwortet sie mir mit einer Gegenfrage: „Warum bist du nach Deutschland gekommen?“ „Weil ich Deutsche bin.“ „Für mich gehörst du nicht hierhin. Du bist in Russland geboren, also bist du eine Russin.“ Ich versuche ihre Logik zu verstehen. Da fällt mir endlich ein passender Vergleich ein: „Und wenn ein Schwein im Pferdestall geboren wird, ist es dann ein Pferd?“ In diesem Moment spüre ich, dass es mir völlig egal ist, wie andere über meine Nationalität denken. Die Hauptsache ist: Ich weiß, dass ich Deutsche bin!