Sonja Janke und Sabine Roß
Es ist 8 Uhr morgens. Unsere IL-86 von Scheremetjevo nach Frankfurt steht zum Abflug bereit. Vor lauter Angst, die Maschine zu verpassen, habe ich in der Nacht kaum ein Auge zugemacht. Die letzte Woche verbrachten wir in der schäbigen Unterkunft des deutschen Reisebüros, bis die letzten Formalitäten bei der Botschaft erledigt waren. Danach waren wir fix und fertig! Zum Glück ist in ein paar Stunden alles vorbei.
Jetzt gibt es hier am Zoll wieder eine Menge Ärger. Die Zollbeamtin will wissen, warum ich so einen großen Karton als Handgepäck mit ins Flugzeug nehmen will. „Was ist da drin?“, fragt sie mit energischer Stimme. Ich erkläre ihr freundlich, dass in dem Karton ein wunderschönes Tafelservice ist, das auf keinen Fall als Scherbenhaufen in Deutschland ankommen soll. Die Passagiere hinter uns werden langsam nervös. Auch mein Mann wird allmählich sauer auf mich. Er hätte niemals so einen Schrott mit in die neue Heimat geschleppt. Aber was verstehen Männer schon von gutem Porzellan. Außerdem wurde dieses Geschirr, das wir zur Hochzeit bekommen haben, in der ehemaligen DDR produziert. Endlich habe ich die Dame überzeugt und mein Liebster darf den Karton zum Flugzeug bringen. Ich bitte ihn, sehr vorsichtig damit zu sein, aber er macht sich wohl mehr Sorgen um die Tassen in meinem Schrank, als um die Teller im Karton.
Beim Anblick des zweistöckigen Liners von Aeroflot werden wir sprachlos. Fasziniert nehmen wir unsere Plätze im komfortablen Salon ein und schauen uns begeistert um. Was für ein Luxus! Langsam kommt der Riese in Bewegung. Wie soll diese schwere Maschine nur in den Himmel kommen? Fast unmerklich erhebt sich die Iljuschin in die Lüfte und wir winken zum Abschied: Auf Wiedersehen Moskau! Auf Wiedersehen Russland!
Der Flug nach Frankfurt dauert vier Stunden. Endlich kommen wir etwas zur Ruhe. Eine Menge Zeit, die wir gemütlich damit verbringen, uns an unsere Erlebnisse in der russischen Metropole zu erinnern. Unsere Töchter streiten sich, was ihnen in Moskau am besten gefallen hat. Die Metro oder das Kaufhaus GUM. Ich mische mich ein und erzähle meinem Mann, wie traurig die Mädchen waren, dass wir keine Zeit mehr hatten ins Mausoleum zu gehen, sie wollten doch unbedingt den aufgebahrten Lenin sehen. Ein Polizist, der ihre Tränen sah, tröstete sie: „In dem Sarg liegt nur eine ausgetrocknete Gestalt. Man kann kaum glauben, dass das wirklich der Führer der großen Revolution ist. Außerdem habe ich gehört, dass Amerika unseren Iljitsch kaufen will. Dann wird er in der ganzen Welt gezeigt. Und eines Tages kommt er auch nach Deutschland, ihr werdet es sehen.“ Nun fragt Jana mich nach den Fotos, die wir gemacht haben. Sie will ihrem Papa die wunderschöne Basilika mit der traurigen Geschichte zeigen. „Kannst du dir das vorstellen?“, fragt sie ihren Vater. „Man sagt, dass Zar Iwan der Schreckliche den Architekt der Basilika gefragt hat, ob er noch was Schöneres bauen könne. Als dieser antwortete: Ja, das kann ich! befahl der wütende Monarch, dem großen Meister die Augen auszustechen!“
Die Stewardess, die uns jetzt das Mittagessen bringt, hat wohl ein bisschen zugehört und fragt uns, ob wir auch die Kathedrale Maria Himmelfahrt besucht haben, in der im alten Russland die Monarchen getraut und gekrönt wurden. „Stellt euch vor: Fast alle Zaren stammten aus deutschen Familien und waren mit der königlichen Familie aus England verwandt!“ Die Kinder gucken sie neugierig an. Ich nehme die Gelegenheit wahr, ihnen zu erzählen, was ich über die Verbindung der russischen und deutschen Adelsfamilien weiß: Wie ein Märchen klingt die Geschichte der deutschen Prinzessin Sofia Frederica Augusta von Anhalt-Zerbst. Aus dem hässlichen, von der Mutter ungeliebten Mädchen wurde durch Heirat die Zarin Katharina die Große, die mit ihrer Klugheit und Bescheidenheit das Herz des russischen Volkes eroberte und das Land zur kulturellen und politischen Blüte führte. Die Kinder sind ganz beeindruckt von dieser Geschichte. „Mama, dann ist es ja gar nicht so schlimm, dass wir Deutsche sind.“ „Natürlich nicht!“, sage ich, während mir durch den Kopf geht, wie sehr wir als Deutsche in Russland diskriminiert wurden. „Lasst uns erst mal in der neuen Heimat ankommen und selber erleben, wie es ist, deutsch zu sein.“
Merkwürdig, ich bekomme eine Gänsehaut. Ich kann es kaum glauben. Werden wir wirklich gleich in Frankfurt landen? Wir müssen uns anschnallen. Unsere Gefühle schlagen Purzelbaum. „Ich werde nicht aussteigen, ich fliege zurück!“ sagt mein Mann plötzlich voller Angst, und die Kinder wollen die Augen erst nach der Landung wieder aufmachen, gerade so, als würden sie vor dem Weihnachtsbaum stehen. In mir ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Die eingeredete Angst vor den fremden, kapitalistischen Menschen kann meine Freude nicht schmälern: Endlich kann ich Deutsche sein, ohne mich schämen zu müssen! Endlich bin ich zuhause!