Sonja Janke und Sabine Roß
Endlich ist der Tag vor der Ausreise nach Deutschland gekommen. Heute verabschieden wir uns von dem, was uns so sehr am Herzen liegt. Unser nagelneues Haus haben wir ganz billig verkauft. Die Möbel, Teppiche und andere Sachen sind längst verschenkt - im Westen wird uns bestimmt alles vom Himmel fallen. Am frühen Morgen sieht es in unserem Hof wie in einem Bienenstock aus. Verwandte und Nachbarn, Bekannte - und sogar Unbekannte, die von unserem Glück hören - sind heute bei uns willkommen und bedienen sich am gedeckten Tisch. „Vergesst uns bitte nicht, schreibt uns!“ Diese Worte unserer Gäste schweben in der Luft, ihre Wünsche für eine gute Reise sind mehr oder weniger deutlich verbunden mit der Bitte, sie aus der Ferne zu unterstützen. Mit einem Lächeln versichere ich allen, dass sie von uns hören werden, aber wir müssen ja erst einmal in Deutschland ankommen. „Mama, Mama!“, plötzlich steht meine jüngere Tochter vor mir, „Du hast die Anna noch gar nicht eingepackt!“ Ich verlasse meine Gäste und die Puppe landet im Gepäck. „Verdammt! In diesem Haus kann man ja nichts finden!“, höre ich einen Schrei aus dem Kinderzimmer. „Wer hat meine Sportklamotten gesehen?“ So ein Chaos! Auf dem Weg zu meiner älteren Tochter fällt mein Blick auf das Fensterbrett. Dort steht unsere Wanduhr, wer hat die abgehängt? Mir wird heiß und kalt: „Der Bus! Wo bleibt der Bus? Um diese Zeit müsste er schon längst da sein!“ Ich renne zum Telefon, stolpere dabei über eine Tasche, die mitten im Weg rumsteht, und wähle völlig außer Atem die Nummer des Reiseunternehmens. „Der Bus ist schon unterwegs“, erfahre ich am Telefon. Jetzt fällt mir diese mysteriöse Tasche wieder ein. Ich schaue hinein und finde die Fotoalben, die ich doch gestern meiner Nachbarin gegeben habe. „Wie kommen die darein?“, frage ich meinen Mann streng. Er blickt auf die Tasche und sagt voller Stolz: „Dieser Schatz war mir wirklich zu schade, um ihn zurückzulassen!“ „Mein Liebster“, sage ich so ruhig wie ich kann, obwohl ich ihn auf der Stelle erschießen möchte, „hast du nicht die Ausreisebestimmungen gelesen? Diese Dinge darf man nicht mit ins Flugzeug nehmen.“ Doch mein Mann lässt sich nicht überreden: „Ich darf alles! Wenn wir deswegen beim Zoll Probleme kriegen, möchte ich auf die Reise in unsere glückliche Zukunft verzichten! Was glaubst du, warum ich heute schon so viel getrunken habe? Wenn ich nüchtern wäre, würde ich einfach hier bleiben.“ Ich atme tief durch.
Auf dem Hof ist es immer lauter geworden, wahrscheinlich ist der Bus gekommen. „Setzt euch kurz hin!“, befehle ich meiner Familie. „Und bitte seid still.“ Das ist alte russische Tradition bevor man eine Reise antritt, damit alles gut geht. Wir setzen uns einfach auf die Koffer. Doch einer von den Vieren bleibt leer. „Lilli!“, schreie ich. Wir rennen ums Haus herum, untersuchen alle Ecken, den Keller und den Dachboden, sogar bei den Nachbarn fragen wir: Nirgends eine Spur von unserer Tochter! „Liebe Leute, ich kann doch nicht ewig auf euch warten!“, höre ich die Stimme des Busfahrers. „Bestimmt verpasst ihr heute den Zug nach Moskau!“ So ein Mist! Was machen wir jetzt? Ich setze mich auf eine Bank im Hof – und fange endlich an zu weinen. Da geht das Gartentor auf und unser vermisstes Kind guckt mir samt Freundinnen beim Weinen zu. „Ich fahre nicht mit!“, schreit Lilli mich an. Mir bleibt fast das Herz stehen. „Wieso?“, frage ich, dann versagt mir die Stimme. „Ich bin hier geboren. Hier habe ich meine Schule und Freunde. Außerdem kann ich doch meine Heimat nicht verraten! Hast du vergessen, was Tante Valentina aus Kasachstan geschrieben hat?“ Langsam komme ich wieder zu mir. „Sie schrieb, dass wir in Deutschland nichts verloren hätten. Natürlich weiß ich, dass die Leute im Westen etwas anders sind. Ich habe auch in der Schule gelernt, dass die Menschen im Kapitalismus wie Wölfe zueinander sind. Aber, weißt du was? Wir zeigen den Leuten, dass Fremde Brüder werden können!“ „Ich sterbe vor Lachen! Deine Theorie mit den Wölfen ist so alt, wie die Dinosaurier. Unsere Geschichtslehrerin hat uns mal erzählt, dass im Westen ganz normale Leute leben, die lieben und träumen, die sich freuen und traurig sind, genau wie wir. Aber ohne meine Heimat habe ich keine Zukunft!“ „Jetzt reicht es mir!“, unterbricht uns mein Mann. „Marsch, alle in den Bus!“ Als Lilli zögert, obwohl ich ihr androhe, sie zu erwürgen, wenn sie nicht endlich einsteigt, sagt ihre beste Freundin weinend: „Lilli, jede von uns möchte an deiner Stelle sein. Von so einer Chance können wir nur träumen. Denk doch nur an die tollen Klamotten! Vielleicht wirst du einen reichen Mann heiraten. Kopf hoch, Lilli, bestimmt wartet dort ein besseres Leben auf dich!“ „Wer weiß.“, sagt mein Mann. „Besser ist es immer da, wo man gerade nicht ist.“